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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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gekränkt. Und jetzt muss er für seine Rage mit der Einbildung büßen, man hätte ihn eingesperrt. Das könnte sein, das wäre eine plausible Hypothese. Möglichkeiten, sie zu verifizieren, gibt es nicht, das ist in der Psychoanalyse ja keine Seltenheit. Wir Analytiker sind Geschichtenerzähler, und die beste Geschichte hauen wir dem Patienten um die Ohren. Auf diese Geschichte einigen wir uns im Laufe der Therapie, diese Geschichte wird zu der Wahrheit, an der wir alle Gefühle und Einbildungen festmachen. So kommen Ruhe und Struktur in das Denken des Patienten über sich selbst, und wir können den Abschied vorbereiten. Wir sind keine Historiker wie Roos.
    Ich bin erschrocken. Ich mache die ganze Zeit Ausflüchte, wenn ich so über mein Fach philosophiere. Er hat mich geschockt. Mein Vater war, ist jemand, der seine Emotionen ungebremst in eine destruktive Tat umsetzt. Jemand, der sich nicht in der Gewalt hat, der nicht sagen kann: Das ist ein Gefühl, warte, das legt sich wieder. Ich bin erschrocken.
    Um Punkt elf Uhr klingelt es, und Drik öffnet die Tür. Er hat im Sprechzimmer das Fenster aufgemacht, als der Patient von zehn Uhr ging; jetzt ist alles wieder ordentlich, Fenster zu, der von Roos ausgesuchte Vorhang davor, Lampen an gegen das Dezemberdunkel. Es ist noch ein bisschen kalt nach dem Lüften.
    Allard behält seinen Schal um. Den Mantel hat er auf die Couch geworfen. Er will weggehen können, ohne erst zur Garderobe zu müssen, denkt Drik. Er fühlt sich hier nicht sicher. Drik bewegt sich bewusst langsam. Er setzt sich in aller Ruhe und schaut Allard an. Der Junge sieht schlecht aus. Er wirkt abgemagert. Seine Haut ist gelblich bleich, und unter seinen gereizten Augen liegen blauschwarze Schatten.
    »Wie geht es dir?«, fragt Drik.
    Der Junge bewegt sich unruhig in seinem Sessel, schlägt die Beine übereinander, wippt mit dem Fuß. Turnschuhe, schmutzige Socken. Es ist still.
    »Das hier bringt mich nicht weiter. Ich schlafe jetzt fast gar nicht mehr.«
    Drik fragt, was er fragen muss: Schwierigkeiten einzuschlafen, durchzuschlafen, wach zu werden? Träume, Gedanken, die ihm Angst machen? Als keine klare Antwort kommt, greift er den ersten Teil der Mitteilung auf.
    »Du findest, dass es dir besser gehen müsste, da du in Therapie bist?«
    Der Junge krümmt sich in sich zusammen, erwidert aber nichts.
    »Ich glaube, du möchtest damit sagen, dass ich meine Arbeit nicht gut mache. Du nimmst die Mühe auf dich, regelmäßig hierherzukommen, und das Resultat ist nicht das, was du dir erwartest. Es könnte sein, dass du mir das vorwirfst.«
    Allard nickt. Mehr kommt nicht. Da ist Hopfen und Malz verloren, denkt Drik. Er hat Angst, aber Gott weiß wieso, warum, wovor. Er vermittelt mir das Gefühl, dass ich nichts kapiere und nichts richtig mache. Ich kann überhaupt nicht denken, und das ärgert mich. Dabei ist es erst fünf nach elf.
    Allard schweigt und blickt zu Boden. Mit einem Mal weiß Drik: Das ist sein Gefühl. Er hat Angst, nicht zu genügen, er kann nicht denken. Er lässt mich fühlen, wie lähmend das ist. Dieser Gedanke ist befreiend, Drik merkt, wie sein Ärger schwindet.
    »Weißt du, Allard, ich habe die starke Vermutung, dass du vor irgendetwas Angst hast. Wir könnten mal untersuchen, wie es sich damit verhält. Was dich so ängstlich macht. Ich weiß, dass du ohne Vater aufgewachsen bist, vielleicht hat es ja damit zu tun.«
    Ruckartig schaut Allard auf. »Wie denn?«
    »Vielleicht bin ich eine Art Vater, und du musst dein Bestes geben, um mir zu gefallen. Wie du das auch bei deinen Lehrern und später bei deinem Professor getan hast. Du kannst, denke ich, nicht glauben, dass es mir nicht um gute Leistungen geht, dass du nicht beizupflichten brauchst, wenn ich dir irgendwelche Hypothesen unterbreite. Dass ich einfach nur mit dir ins Gespräch kommen möchte.«
    »Wenn das so ist«, sagt Allard langsam, »wenn ich mir hier alle Mühe gebe, der beste Patient aller Zeiten zu werden, den das, was Sie über meinen Vater sagen und so, unheimlich weiterbringt, dann trägt dieses softe Gelabere von wegen Ins-Gespräch-Kommen echt nicht dazu bei, dass ich das ablege.«
    Drik sieht ihn fragend an.
    »Ich finde das ziemlich absurd«, fährt Allard fort, »und ich glaube Ihnen auch nicht. Therapeutengewäsch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich ehrlich gemeint ist.«
    Drik erläutert, gerade hier liege das Problem. Er versucht dem Jungen ein Lob auszusprechen, da er soeben seinem

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