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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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sorgfältigen Rekonstruktion der lädierten Symphyse durch den plastischen Chirurgen war das Mädchen noch in derselben Nacht einem unerklärlichen Herzstillstand erlegen. Suzan hatte nichts damit zu tun gehabt, sie brauchte den Eltern nicht Rede und Antwort zu stehen, ihre Rolle war längst gespielt. Trotzdem war das Gefühl des Entsetzens nicht gewichen. Es kam ihr so vor, als hätte sie heimlich, unrechtmäßig mit jemandem getauscht, mit einer Mutter, die jetzt verzweifelt auf den Leichnam ihrer Tochter blickte. Eigentlich hätte sie das sein müssen, aber sie hatte sich mit List und Tücke aus der Affäre gezogen.
    Das Ganze hatte ihre Entfernung zu Roos noch vergrößert. Was hatte man von solchen Gedanken, sie waren zu nichts nütze, brachten keine Lösung. Nicht nur die über Achtzigjährigen starben, die alle naselang auf dem Operationstisch lagen, um sich neue Herzklappen einsetzen zu lassen, während die Adern, durch die das Blut mit erneuerter Kraft hindurchschnellen sollte, in erbärmlichem Zustand waren. Auch junge Menschen konnten sterben, bekamen einen Hirntumor, ein Melanom, verunglückten im Straßenverkehr. Wenn jemand auf dem Tisch starb, mussten Chirurg und Anästhesist gemeinsam zur Familie. Im Studium waren sie darin geschult worden, wie man solche schlimmen Nachrichten übermittelte. Wie alt war sie da gewesen, Anfang zwanzig? Sie hatte keine Ahnung von der Bedeutung, der Tragweite gehabt. Gleich sagen, was Sache sei, hatte der Psychologe empfohlen. Kurz erläutern, wie es sich abgespielt habe, Einzelheiten hätten Zeit bis später. Betonen, dass alle ihr Bestes gegeben hätten und sämtliche Maßnahmen ergriffen worden seien. Dann abwarten, was an Reaktionen komme. Strukturieren, etwas Konkretes anbieten – ein Glas Wasser, die Möglichkeit zu telefonieren –, egal was, Hauptsache, es würde helfen, die Betroffenen wieder aus ihrer Hölle herauszuziehen. Suzan ließ immer den Chirurgen das Wort führen. Sie stand daneben und fühlte sich unbehaglich, nicht dort, wo sie hingehörte.
    »Jetzt geh dich mal hübsch machen«, hat Peter gesagt, »dann bringe ich dich zu dem Restaurant. Ich hole dich auch wieder ab, wenn du möchtest. Es wird dir guttun, du wirst sehen.« Er zog sie vom Sofa und schob sie die Treppe hinauf. Sie musste unwillkürlich lachen.
    Jetzt steht sie Livia gegenüber. Über die Schulter der Sekretärin hinweg wirft sie einen Blick in den Saal, der mit runden, mit Tannenzweigen und dezentem Engelshaar geschmückten Tischen vollgestellt ist. In einer Ecke sind Mikrofone aufgestellt.
    »Schön, dass du da bist«, sagt Livia. »Das Menü hat Professor Vereycken persönlich festgelegt. Und wir wollen Speeddating machen. Schöne Räumlichkeiten, nicht?«
    »Hast du wieder mal großartig ausgesucht«, sagt Suzan, die sich erst noch von der Nachricht mit dem Speeddating erholen muss. »Wie ist die Sitzordnung? Darf ich mich hinsetzen, wo ich möchte?«
    Vereycken, von seinen Überschuhen befreit, stellt sich zu ihnen.
    »Gemischt«, meint er. »Soweit es möglich ist. Fachärzte und Assistenzärzte durcheinander. Sinn der Sache ist doch, dass wir einander besser kennenlernen, und da sollte man sich nicht mit lauter alten Freunden an einen Tisch setzen. Die wissenschaftlichen Angestellten kommen auch. Mischen heißt die Devise.«
    Der Eingangsbereich füllt sich rasch. Wir sind es gewohnt, pünktlich zu erscheinen, denkt Suzan, deshalb wollen jetzt vierzig Leute gleichzeitig ihre Mäntel aufhängen. Ohne Haar- und Mundschutz sorgen die Gesichter der Kollegen mitunter für ein Überraschungsmoment, und es dauert etwas, bis das Erkennen wirklich in ihr Bewusstsein dringt. Tjalling hat den gleichen schmuddeligen Anzug an wie im vorigen Jahr, Bibi trägt einen farbenfrohen Batikschal um die Schultern. Die jüngsten Assistenten stehen schüchtern in einer Ecke zusammen. Suzan erkennt Jeroen und begrüßt ihn. Vereycken und Livia haben sich an den Eingangstüren zum Speisesaal aufgestellt und winken alle herein.
    »Ihr dürft nicht zusammensitzen«, sagt Suzan. »Kommst du mit, dann mischen wir uns schon mal. Du auch?« Sie sieht ein dünnes Mädchen an, das neben Jeroen steht. Das Kind nickt und spricht Suzan mit leiser Stimme an – sie heiße Hettie, sie finde das sagenhaft, ein Essen, zu dem sie auch kommen dürften, das hätte sie nie erwartet, so eine Offenheit. Sie bündelt ihre glatten Haare im Nacken und steckt sie mit einer Klammer hoch. Schnittlauchlocken, denkt Suzan. Diese

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