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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Ärger über ihn Luft machen konnte. Er versucht ihm zu sagen, dass das Haus trotzdem immer noch steht und sie noch genauso ruhig zusammensitzen.
    Dann ist es geraume Zeit still. Keine unangenehme, gehemmte Stille, sondern eher eine Stille zum Verschnaufen und Zu-sich-Kommen.
    »Ich habe das schon gesehen, als ich zum zweiten Mal herkam. Dass das ganze Zimmer renoviert worden ist. Alles neu und verschönert. Für mich, dachte ich. Beim ersten Mal war ich zur Probe hier, ich habe bestanden, und Sie kaufen einen neuen Teppich.« Er lacht abfällig. »So denke ich also.«
    »Ja«, sagt Drik. »Als müsstest du immer und überall Prüfungen ablegen. Du darfst natürlich nicht enttäuschen.«
    Es scheint, als entspanne sich Allard jetzt. Er lässt die Schultern ein bisschen fallen, und seine Miene sieht zugänglicher aus. Traurig auch. Lass ihn mal eben, denkt Drik.
    »Ich konnte heute Morgen eigentlich gar nicht weg. Auf der Station war so viel los. Zwei Neuaufnahmen und viel Geschrei. Ein Mann bedrohte eine Schwester, nahm sie auf dem Flur in die Zange und fuchtelte mit einem Stuhl herum. Durch seine Angst war der Mann bärenstark. Eigentlich sollte man da das Weite suchen, aber das Gegenteil ist gefordert. Der Psychiater muss etwas tun. Das ist total absurd. Man hockt jahrelang über Büchern und paukt, es wird erwartet, dass man nachdenkt, philosophiert. Was soll man damit in der Praxis? Zu fünft springt man auf so einen gefährlichen Kerl drauf! Der reinste Zirkus. Vier für Arme und Beine, und einer mit der Spritze.«
    »Wie war das denn, heute Morgen?«
    Allard reibt sich die Augen.
    »Sie hockten auf dem Kerl drauf. Er biss einem Praktikanten ins Bein. Alle riefen und schrien. Ich hatte die Haldolspritze in der Hand. Sie schrien, dass ich mich beeilen sollte, sie könnten ihn nicht länger halten. Andere Patienten waren schon in Panik geraten, aus dem Aufenthaltsraum drang ein Heidenlärm. Die Musik war auch noch an, voll aufgedreht. Borsato. Ich stand da und konnte mich nicht vom Fleck bewegen. Sie hatten dem Mann die Hose runtergezogen, ich sollte hin und die Nadel in seinen käsigen Hintern stechen. Fünf Schritte, bücken, rein damit. Die Spritze kullerte über den Boden. Ich hab sie einfach aus der Hand rutschen lassen.«
    Drik hört zu. Er achtet nicht auf die Uhrzeit, er ärgert sich nicht, er geht in der Szene auf, die Allard ihm schildert.
    »Hinter mir kamen Leute auf den Flur. Hilfstruppen. Irgendwer hatte natürlich den Alarmknopf gedrückt. Meine Supervisorin war dabei. Sie schob mich zur Seite, fluchte. Sie kniete sich neben den Mann, in ihrem feinen Röckchen, und hat ihm die Spritze verpasst. Da war es vorbei. Sie zerrten ihn in die Isolierzelle, und die Supervisorin erhob sich. Ich stand immer noch da, ich konnte vor Schreck nicht denken. Sie kam zu mir und zog ihren Pulli gerade. Da habe ich mich umgedreht und bin weggelaufen. Geflohen.«
    »Wie fühlte sich das an?«
    »Furchtbar. Ich dachte: Ich muss hier weg, sonst schlag ich sie nieder. Ich dachte: Ich bin kein bisschen besser als der Kahlkopf, den sie gerade sediert hat. Ich dachte: Diesen Beruf will ich nicht. Ich bin dafür nicht geeignet. Die zierlichsten Mädchen machen das ganz ohne Probleme. Ich kann es nicht.«

10
    Im Eingangsbereich des Restaurants erwartet Livia Labouchere die Gäste. Professor Vereycken ist als Erster eingetroffen, er steht gerade in der Garderobe und zieht sich die Überschuhe aus, als Suzan eintritt.
    Sie hatte keine Lust. Sie erwog, mit Ab Taselaar zu tauschen, der heute Abend Dienst hat, obwohl er als OP-Koordinator eine so zentrale Rolle spielt, dass er bei der Weihnachtsfeier der Anästhesie eigentlich nicht fehlen darf. Peter bemerkte ihren Unmut und fragte, was los sei. Müde, murmelte sie, einfach keine Lust. Das glaubte er ihr nicht, sie möge ihre Kollegen doch, die ganze Abteilung, sie gehöre doch dazu. Suzan zuckte die Achseln und legte die Beine aufs Sofa. Reden, Worte, dachte sie. Ihre Augen brannten – bitte keine Tränen jetzt, Schluss, sofort.
    »Seit der Nacht, als du dieses Mädchen für Roos gehalten hast, bist du neben der Spur«, sagte Peter. »Da sind unsere Probleme plötzlich in deinen OP eingedrungen. Seitdem traust du dem allen nicht mehr.«
    Sie blieb stumm. In solchen Gesprächen war sie nicht geübt. Sie wollte, dass er damit aufhörte. Den Gedanken an das Mädchen hätte sie am liebsten ein für alle Mal eliminiert. Nach der gelungenen Operation, der Reparatur des Darms und der

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