Die Bettelprophetin
Hamburg organisieren.
Es kann einige Zeit dauern, bis die Behörden dir die Auswanderererlaubnis erteilen, aber ich denke fast, sie werden es bei dir wie bereits bei mir mit einiger Genugtuung tun. Denn um auszuwandern, musst du schriftlich auf deine Rechte als Württembergischer Untertan verzichten und wirst aus unserem Königreich auf immer entlassen.
Im Geldbeutel befindet sich auch ein kleines Medaillon mit einem Zettelchen darin. Darauf steht die Adresse eines entfernten Vetters von mir in Neuyork. Ihn suche nach deiner Ankunft auf, er wird wissen, wo ich mich aufhalte.
Ich bete jeden Tag für dich, dass Gott dich schützen und alsbald zu mir bringen möge. Ich weiß, du wirst kommen, und meine Hand zittert jetzt schon vor Glück bei dem Gedanken, dass eine gemeinsame Zukunft vor uns liegt, ein neues Leben im freien Amerika!
Es umarmt dich in großer, inniger Liebe – dein Patriz
«Ist alles in Ordnung?»
Theres nickte und wischte sich verstohlen über die Augenwinkel. «Morgen früh werde ich mich auf den Weg nach Stuttgart machen.»
«Wir. Wir beide. Ich habe es Patriz versprochen.»
«Aber ich möchte nicht, dass Sie Ärger bekommen.»
«Und wenn schon. Das ist noch der geringste Gefallen, den ich meinem alten Freund erweisen kann.»
Theres zögerte. «Wären Sie denn bereit, einen Umweg zu machen?»
«Wenn es nicht grad eine Weltreise ist – gern!»
Die Sommersonne brannte auf das Deck der Dreimastbark «Marie». In sanften Wellenbewegungen schob sie sich durch die ruhige, tiefblaue See der Deutschen Bucht. Diejenigen Passagiere, die nicht jetzt schon an Seekrankheit litten, standen achtern an der Reling und warfen einen letzten Blick zurück auf die schwächer werdenden Umrisse ihrer Heimat, die sie wahrscheinlich nie wiedersehen würden.
Theres lehnte am vorderen Deckshaus und hielt ihr Gesicht in den kühlenden Fahrtwind. Sie brauchte nicht zurückzuschauen, ihr gefiel es vielmehr, zu beobachten, wie sich der Bugspriet der Bark über dem Wasser hob und wieder senkte und damit jedes Mal ihrem Ziel ein Stückchen näher kam.
Lange genug hatte es gedauert, schier endlose Wochen derVorbereitung, des Wartens, der Abschiede, bis sie endlich, am 13. August, an Bord gehen durfte, zusammen mit rund zweihundert Auswanderern, die ihr Glück in der Neuen Welt suchten.
Vikar Matthes hatte sie wohlbehalten nach Stuttgart gebracht und dabei ohne Murren den Umweg über Zwiefalten und Münsingen in Kauf genommen. In einer der Nächte bei Pfarrer Konzet hatte sie nämlich geträumt, dass ihre Mutter gestorben war, friedlich, ruhig und vollkommen klar im Geiste. Theres war im Traum dabei gewesen, hatte ihr bei ihren letzten Atemzügen die Hand gehalten, während ihre Mutter zu ihr sagte: «Du warst immer mein Kind, mein kleines Mädchen. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.» Danach hatte sie die Augen geschlossen, und im nächsten Augenblick schon konnte Theres sehen, wie sie im Schatten der Zwiefalter Kirchtürme bestattet wurde.
Tatsächlich hatte sie dort dann das Grab ihrer Mutter gefunden, mit frischer Erde noch. In einem langen, stummen Zwiegespräch hatte sie sich mit ihr versöhnt, während der junge Vikar geduldig auf einer Bank saß und wartete. Auch von ihrem Bruder Hannes hatte sie sich verabschiedet. Er sah besser aus denn je, gesund und glücklich, und als sie ihn überreden wollte, mit ihr zu kommen, eröffnete er ihr mit strahlendem Gesicht, dass er verlobt sei. Er habe doch tatsächlich ein Mädchen gefunden, das um alles in der Welt mit ihm zusammen sein wollte, obwohl ihr die halbe Münsinger Männerwelt hinterherscharwenzelte, so schön sei sie. Dann war sein Blick wehmütig geworden: «Ich würde dich so gern als Trauzeugin dabeihaben. Aber ich weiß: Du tust das Richtige. Ich wünsche dir alles Glück der Welt.»
Von Hannes hatte sie auch erfahren, dass ihre Mutter im April verstorben sei. Man hatte ihn so rechtzeitig holen lassen, dass er in der Sterbestunde bei ihr sein konnte.
«Sie hat mich erkannt. Wir hatten noch zusammen gebetet,dann wurde ihre Stimme zu schwach. Und sie hat deinen Namen genannt, etwas zu dir gesagt, aber ich konnte es nicht verstehen.»
«Ich glaube, ich weiß, was sie gesagt hat.»
Nachdem sie sich mehrmals und unter vielen Tränen umarmt hatten, brachte der Vikar sie nach Stuttgart, ihrer letzten Station in diesem Land, dass sie bald verlassen sollte.
Fast drei Monate sollten es am Ende sein, bis sie alle Papiere und Dokumente für Reise
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