Die Bettelprophetin
Geschäftsmänner mitsamt ihren Ehegattinnen, dazu eine Handvoll Republikaner und Liberale – und allen voran ein widerspenstiger, volkstümlicher Pfarrer, der charismatische Patriz Seibold, der sich von seinen blutleeren, dem protestantischen Stuttgart ergebenen Kirchenoberen keine Vorschriften mehr machen lässt.
Dass es, fernab der industriellen Zentren und großen Städte, zu dieser teils politisch, teils religiös motivierten kleinen «Revolution» kommen konnte, hat nicht zuletzt mit der Mentalität der Oberschwaben zu tun, die sich zwangseingegliedert sahen in das ungeliebte, pietistisch-protestantische Alt-Württemberg. Im Fall der Therese Ludwig werden ihre tiefgläubige Volksfrömmigkeit und ihr rebellischer Eigensinn, der mitunter skurrile Züge annehmen kann, zu einer explosiven Mischung.
Weder Kirchenleitung noch weltliche Obrigkeit können hinnehmen, dass diese anfangs kleine Dorfgemeinde nach und nach Tausende von Menschen anzieht, die ihre Gottesdienste, ihre Lebensform nach eigenem Gutdünken gestalten wollen. So wird Therese Ludwig schließlich offiziell als Betrügerin und Scharlatanin verurteilt, werden ihre Marienerscheinungen ebenso wie ihre angebliche Besessenheit als arglistige Täuschung denunziert. Und Pfarrer Seibold, von der jungen Frau angeblich fehlgeleitet und verführt, wird endgültig aus seinem Amt entlassen.
Für den heutigen Leser sei gesagt: Es gab damals keineswegs Zweifel an der Existenz von Teufeln oder Marienerscheinungen. Damals wie heute wurden und werden Marienerscheinungen von der katholischen Kirche auf ihre Authentizitätüberprüft, auch wenn inzwischen jedem Gläubigen freigestellt wird, an die Echtheit einer solchen Erscheinung oder an einen leibhaftigen Satan zu glauben. Auch die Teufelsaustreibung ist im Übrigen noch heute offizieller Bestandteil katholischer Lehre und Liturgie. Nach dem Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) dient der Große Exorzismus dazu, «Dämonen auszutreiben oder vom Einfluss von Dämonen zu befreien, und zwar kraft der geistigen Autorität, die Jesus seiner Kirche anvertraut hat». Unter Papst Johannes Paul II. wurden allein in Italien im Jahr 2003 hierzu rund 200 Priester ausgebildet, Papst Benedikt XVI. hat die Absicht geäußert, 3000 neue Exorzisten ausbilden zu lassen.
Ob nun die historische Therese Ludwig eine Betrügerin war oder eine Kranke, eine Besessene oder Verrückte (der Begriff der weiblichen Hysterie wurde in jener Zeit unter den Medizinern sehr populär!) oder womöglich doch eine Visionärin und Prophetin – dies wird sich heute, nach über 150 Jahren, nicht mehr klären lassen.
Ich bin darum den Weg der Phantasie gegangen, habe mir das Recht der Schriftstellerei genommen, aus trockenen Fakten und mit dem Blick auf die Alltagsgeschichte jener Zeit Charaktere und Schicksale zu formen. Und in Therese Ludwig habe ich eine sensible junge Frau gefunden, die, vom Schicksal und den Lebensumständen traumatisiert, am Ende zu sich selbst gefunden hat.
Astrid Fritz
Glossar
Abnormitätenkabinett
– veraltet: Jahrmarktschau, öffentl. Zurschaustellen wundersamer Menschen und Tiere
achter, achtern
– Seemannssprache: hinten, hinterer Teil
ad 1
– (von lat.: ad acta) zu Punkt 1
Ärschlesschlupfer
– schwäb. Schimpfwort: Arschkriecher
altgläubig
– katholisch
Anglaise
– vornehmes Kleidungsstück
Appreturanstalt
– (Bleich- und Appreturanstalt): Fabrik zum Veredeln und Bleichen von Stoffen und Textilien
Armenkollegium
– Ausschuss der Armenfürsorge im alten Württemberg
Arschbaggagsicht
– schwäb. Schimpfwort
Ataxie
– Bewegungsstörung
aufwarten
– veraltet: bedienen
bache
– schwäb.: gebacken. Bist net ganz bache? – Bist du noch bei Trost?
Bagasch
– schwäb.: Gesindel, auch Verwandtschaft (von frz. bagage)
Bark
– Segelschiffstyp mit drei bis fünf Masten
bedienen, sich von jemandem bedienen lassen
– veraltete Um schreibung für Geschlechtsverkehr
Bernerwägelchen
– süddt.: leichter Einspänner
Bettenbronzer –
schwäb. Schimpfwort: Weichei, Angsthase (jemand, der ins Bett macht)
bigottisch
– schwäb.: bigott (scheinheilig)
Blage
– unartiges, lästiges Kind
Bouteille
– im 19. Jahrhundert für Weinflasche
bresthaft
– veraltet: gebrechlich, krank
bruddeln
– süddt.: nörgeln, meckern, schimpfen
Brüdergemeinde
– freikirchliche Gemeinde, siehe auch
Pietisten
Bruderhaus
– ursprünglich mittelalterliche Stiftung für verarmte Ravensburger Bürger.
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