Die Bettelprophetin
Flutwelle auf sie zu zu stürzen.
Der Vikar hielt sie am Arm fest, mit der freien Hand klopfte er gegen ihre Wangen.
«Versuchen Sie, tief durchzuatmen. Sie sind ja aschgrau im Gesicht! Kommen Sie, Schritt für Schritt. Ja, so ist es gut. Sehen Sie? Dort drüben ist schon der
Rappen
. Dort erholen Sie sich ein wenig, und ich hol Ihnen den Umschlag, den Patriz mir gegeben hat.»
Keine halbe Stunde später betrat der junge Vikar mit einem dicken braunen Umschlag in der Hand die Schankstube und setzte sich zu Theres an den Tisch.
«Jetzt sehen Sie schon viel besser aus. Ich hatte mir ernste Sorgen gemacht.»
Theres nippte an ihrem Glas Wasser. Vielleicht sah sie besser aus. Aber innen drin fühlte sie sich vollkommen taub und leer. «Wieso ist er ohne mich weg?», sagte sie leise, mehr zu sich selbst. «Wieso ist er fort, ohne mich noch einmal zu sehen?»
«Glauben Sie mir, Fräulein Ludwig, er hatte keine Wahl. Er hatte den Bischof auf Knien angefleht, die Ausweisung zurückzunehmen – ich war selbst dabei. Aber der Bischof ist hart geblieben: entweder auswandern nach Amerika, und zwar sofort und ohne Umwege. Oder aber zwei Jahre Haft.»
«Zwei Jahre sind lang», murmelte sie. «Aber sie gehen vorüber.»
«Als einziges Zugeständnis hat man ihm am Ende einen Tag Zeit gewährt, hier in Rottenburg seine Angelegenheit zu regeln und mich mit allem Weiteren zu beauftragen. So kam ich zu diesem Umschlag. Er selbst wurde unter strengster Bewachung mit der Postkutsche nach Nürnberg gebracht und dort in die Eisenbahn nach Hamburg gesetzt.» Er lächelte bitter.
Theres zögerte. Was konnte dieser Umschlag anderes enthalten als ein kleines Abschiedsgeschenk und schale Worte derRechtfertigung? Schließlich bat sie den Vikar, das Siegel zu erbrechen.
Der Umschlag enthielt einen ledernen Geldbeutel und einen Brief. Der Vikar pfiff durch die Zähne, als er den Beutel auf Theres’ Bitte hin öffnete. Er enthielt eine Kassenanweisung an die Württembergische Spar-Kasse in Stuttgart, im Wert von hundertzwanzig Gulden, sowie dreißig Gulden in Münzen.
«Das hätt ich nicht gedacht», sagte er. «Er meint es tatsächlich ernst.»
«Was?», fragte Theres verwirrt. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so viel Geld auf einmal gesehen.
«Dass Sie ihm nachfolgen sollen. Das Geld ist für Ihre Auswanderung nach Amerika gedacht.»
«Das – das kann nicht sein. Woher soll er so viel Geld haben, als Dorfpfarrer – und dabei noch so lange Zeit eingesperrt und ohne Amt …» Sie geriet ins Stottern.
«Patriz hat schon immer Mittel und Wege gefunden, wenn ihm etwas wichtig war. Aber keine Angst, Sie können es ruhig annehmen, es ist nicht gestohlen. Seine eigene Auswanderung begleicht im Übrigen die Diözese, so heilfroh sind die, ihn endlich loszuwerden. Wissen Sie was? Ich hole uns zwei Krüge Bier von der Theke, und Sie lesen solange den Brief. Der enthält gewiss nähere Anweisungen.»
«Sie werden zu spät zu ihrer Verabredung kommen.»
«Das macht nichts. Forthuber ist einer dieser bellenden Hunde, die nur höchst selten beißen.»
Theres holte tief Luft, dann faltete sie den Brief auseinander.
Meine geliebte Theres!
Nun also ist unser Weg klarer vorgezeichnet, als ich es je gedacht hätte – unser gemeinsamer Weg, denn ich hoffe bei Gott
und unserem Herrn Jesus Christus, dass du auch weiterhin an meiner Seite bleiben willst.
Wenn du diese Zeilen empfängst, bin ich bereits auf dem Weg zum Hamburger Überseehafen. Ich glaube fest daran, dass du mir nachfolgen wirst. Hierzu habe ich alles, was mir möglich war, in die Wege geleitet: Vikar Matthes wird dich, des vielen Geldes wegen, nach Stuttgart begleiten. Suche dort den Kaufmann Carl Mercy auf, er ist ebenso wie Vikar Matthes ein Mann, der mein volles Vertrauen hat und dem auch du blind vertrauen kannst. Mit seiner Hilfe kannst du das Kassenbillett bei der Spar-Kasse in Kurantmünzen umtauschen, die Summe reicht für eine Zwischendeck-Passage von Hamburg nach Neuyork. Für das übrige Geld kaufe dir neue Lederschuhe, Kleid, Mantel und Wäsche und was du sonst noch brauchst für die Reise, außerdem musst du den Agenten und die Pässe hiervon begleichen. Ich hoffe, es bleibt dir noch ein wenig Zehrgeld für die Reise nach Hamburg.
Carl Mercy wird dir bei allem weiterhelfen. Er weiß, wie man Reise- und Auswandererpass beantragt, und wird dich ins Stuttgarter Bureau zur Erledigung der Formalitäten begleiten. Auch kennt er Agenten, die deine Reise bis nach
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