Die Bettelprophetin
sogar sehen. Und doch war es keine Vision. Mochten manche Menschen in Weissenau auch immer noch glauben, sie sei eine Auserwählte, eine, die Gott als Sprachrohr ausersehen hatte, so wusste sie es besser. Sie war keine Prophetin. Sie hatte nur gelernt, auf ihre innere Stimme zu hören. Und führte nicht letzten Endes alles zum Guten? Wenn nicht im Kleinen, so doch im großen Ganzen – alles hatte irgendwie einen Sinn.
Sie beobachtete die Möwen, die wie weiße Kronen auf denWellenkämmen schwebten. Plötzlich fiel ihr Urle ein, der einst vom Auswandern geträumt hatte. Statt ihm war sie nun selbst auf dem Weg in die Neue Welt.
«Weißt du, was ich manchmal denk, Urle?», sagte sie so laut, dass sich der Kapitän vor ihr umdrehte. «Dass du zu früh aufgegeben hast. Das Leben kann unsagbar schön sein. Aber ich werd dir alles berichten von diesem Land Amerika, von diesem Land der Freiheit.»
Hintergründe zum Roman
Im Revolutionsjahr 1848/49 sorgt im schwäbischen Oberland, das im damaligen Flickenteppich aus 38 deutschen Staaten ganz am südlichen Rand liegt, eine junge Magd aus einfachsten Verhältnissen für Gesprächsstoff, ja sogar für Schlagzeilen in Zeitungen und Gazetten. Therese Ludwig, die uneheliche Tochter einer Landstreicherin, aufgewachsen bei Pflegeeltern und im Waisenhaus zu Weingarten, schart in einem katholischen Dorf südlich von Ravensburg die Menschenmassen um sich, nachdem sie, psychisch und körperlich schwer erkrankt, vom dortigen Pfarrer durch den Akt eines großen Exorzismus geheilt wird und anschließend Erscheinungen und Offenbarungen der Mutter Gottes erfährt. Bald schon wird sie als «Prophetin von Weissenau» bezeichnet, der Kreis ihrer Anhänger als «Ludwigianer» oder «Theresianer».
In einem seit Jahrhunderten zutiefst katholisch geprägten Landstrich, einer Gegend, die trotz der überall einsetzenden Industrialisierung ländlich-konservativ bleibt, scheint dies auf den ersten Blick so außergewöhnlich nicht – wären da nicht die historischen Umstände: Es ist eine Zeit der politischen und wirtschaftlichen Umbrüche, in der die Kirche, die katholische zumal, nach Jahrhunderten der Macht auch über den Alltag der Menschen ihre Autorität fast ganz verloren hat; wo seit der Säkularisation von 1803 (Enteignung von Kirchengütern und Auflösung von geistlichen Territorien) in die aufgelassenen Klöster Schulen und Waisenhäuser, Irrenanstalten und Gefängnisseeinziehen; wo quer durch die Konfessionen hitzige Religionsstreitigkeiten entbrennen; wo der Mensch entweder gänzlich den Glauben verliert oder sein Heil in Erweckungsbewegungen und Brüdergemeinen sucht.
Halt und Hilfe scheinen mehr denn je nötig, denn nach Missernten und Hungersnöten bleiben Massen an Armen und Allerärmsten auf der Strecke. Zumal im Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen, der neuen Fabriken und der Flucht in immer unwirtlicher werdende Städte ein neuer Gott zu herrschen scheint: der Gott Mammon, gestützt von einer Obrigkeit, die mehr und mehr zum Polizeistaat mutiert – ob nun in Bayern, Preußen oder in Württemberg, das seit 1806 Königreich ist.
Kirchliche Riten und Feste, Prozessionen, Wallfahrten und uralte Gebetsrituale wie das Rosenkranzbeten finden in diesem neuen Zeitalter der Industrialisierung keinen Platz mehr und erst recht keine Zeit, denn der Alltag wird getaktet durch Arbeitsteilung und Mechanisierung, ist diktiert von der Jagd nach Gewinn und Erträgen zugunsten einiger weniger.
Unter diesem Aspekt erhält das Tun dieser kleinen Gemeinde tiefgläubiger Katholiken, die auf der Suche sind nach einem ursprünglichen, volkstümlichen, gemeinschaftlichen Glauben, etwas durch und durch Aufrührerisches. Viele Monate lang halten die Menschen um Pfarrer Seibold die oberschwäbische Obrigkeit in Atem, mit ihrem offenen Ungehorsam gegen Kirchenleitung und Staatsbeamte. Man akzeptiert nicht die Suspendierung des Pfarrers, man stellt sich schützend vor Therese Ludwig, die wegen Betruges und notorischer Unsittlichkeit ins Arbeitshaus soll, am Ende kommt es zu einem regelrechten Volksaufstand mit Gefangenenbefreiung und Erstürmung des Ravensburger Oberamtsgerichtes.
In dieser Verbindung von Revolution und Volksfrömmigkeit,in diesem Kampf gegen Monarchie, Polizeistaat und Staatskirche, findet sich unter den «Ludwigianern» eine höchst bunte Mischung aus Akteuren: katholische Bauersleute und Taglöhner, erfolgreiche Fabrikanten, teils katholische, teils evangelische
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