Die Beute
bemerkte kleine Dinge – winzige, zarte Details, die ihr noch nie zuvor aufgefallen waren.
Seit ihrer Begegnung mit Julian hatte sie sich diesen Dingen geöffnet. Ihrer Sinnlichkeit, ihrer Unmittelbarkeit. Vielleicht war es das, was die Menschen bemerkten, wenn sie sagten, sie habe sich verändert.
Oder vielleicht war sie immer schon anders gewesen. Denn schließlich war sie auserwählt worden. Julian hatte sie auserwählt, hatte sich in sie verliebt, hatte sie beobachtet, seit sie fünf Jahre alt war.
Denn mit fünf hatte sie einen geheimen Wandschrank im Keller ihres Großvaters geöffnet, einen Schrank, in den das Symbol Nauthiz gemeißelt war, die Rune der Beherrschung.
Es war das Normalste der Welt gewesen. Lass ein Kind allein in einem Keller, wo ein Bücherregal verrückt worden ist, um eine geheime Tür freizulegen, und was würde es wohl tun? Was konnte auch schon passieren?
Das kam darauf an. Wenn der Großvater wie jeder Großvater war, ein lieber alter Mann, der gern im Garten arbeitete und Golf spielte, konnte nichts passieren. Aber wenn der Großvater sich in den schwarzen Künsten versuchte, sah die Sache anders aus. Und wenn der Großvater tatsächlich Erfolg gehabt hatte in seinem Streben, Geister von einer anderen Welt zu rufen und sie zu fangen … und wenn die Tür, die das Kind öffnete, diejenige war, die die Geister wegsperrte …
Dann waren die Konsequenzen unvorstellbar.
Jenny hatte diese Tür geöffnet und eine wabernde, schäumende Mischung aus Eis und Schatten gesehen. Und in den Schatten – Augen.
Dunkle Augen, beobachtende Augen, höhnische, grausame, erheiterte Augen. Uralte Augen. Die Augen der anderen, der Schattenmänner.
Man hatte ihnen in den verschiedenen Zeitaltern verschiedene Namen gegeben, aber ihr wahres Wesen kam immer durch. Sie waren diejenigen, die einen aus den Schatten beobachteten. Und manchmal Menschen an ihren eigenen Ort holten.
Was Jenny von diesen Augen am meisten in Erinnerung geblieben war, war ihr hungriger Ausdruck. Böse, mächtig, ausgehungert.
»Sie alle würden dich liebend gern mit ihren Zähnen durchbohren«, hatte Julian zu Dee gesagt. »All die anderen Schattenmänner – die über mir stehen, die uralten, knochenaussaugenden Geister, die sich die Lippen lecken.«
Plötzlich schien das Wasser eher kalt als kühl zu sein. Jenny schwamm zu den Stufen hinüber und kletterte zitternd heraus.
Zurück in ihrem Zimmer, rubbelte sie sich ganz trocken, bis sie aufhörte zu zittern. Dann zog sie ein T-Shirt über und kroch ins Bett. Aber die Vision der glühenden Augen verfolgte sie, bis sie aus purer Erschöpfung einschlief.
Plötzlich weckte sie ein Klingeln.
Der Wecker, dachte sie verwirrt und tastete auf ihrem Nachtkästchen danach. Aber das Klingeln ging weiter.
Ihr Fenster war dunkel. Der Wecker in ihrer Hand zeigte in leuchtend roten Ziffern drei Uhr fünfunddreißig.
Das Klingeln ging immer weiter, erschreckend laut wie eine Sirene. Das Telefon.
Ihre Eltern würden bestimmt jeden Moment abnehmen. Aber sie taten es nicht. Jenny wartete. Es klingelte und klingelte und klingelte.
Sie mussten abnehmen. Nicht einmal Joey hatte einen so tiefen Schlaf. Jeder einzelne Klingelton durchfuhr dieses dunkle und stille Haus wie ein weißer Blitz.
Ein Frösteln überlief Jenny.
Sie stellte fest, dass sie unbewusst mitgezählt hatte. Neun Klingeltöne, die die Stille zerschnitten. Zehn. Elf. Zwölf.
Sie stand auf. Vielleicht war es Dee, vielleicht hatten sie und Michael etwas Wichtiges herausgefunden und hatten aus irgendeinem Grund bis jetzt nicht anrufen können.
Mit hämmerndem Herzen nahm Jenny den Hörer ab.
»A…isht«, flüsterte eine Stimme.
Jenny erstarrte.
»A…isht…«
Das Rauschen in der Leitung verschluckte das Wort. Jenny konnte nur die Vokale und das leise Zischen am Ende ausmachen. A wie Anton, dann ish. Es klang nicht länger wie vanished, verschwunden.
Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Sie konnte nur den Hörer umklammern und zuhören.
»A…isht…«
Damaged? Nein, das lag noch weiter daneben. A-isht. Am-ish. Amished.
Oh mein Gott, oh Gott oh Gott oh Gott …
Pures dunkles Entsetzen schlug über ihr zusammen und jedes Härchen auf ihrem Körper stellte sich auf. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. In diesem Moment hörte sie, was die Stimme wirklich sagte. Sie wusste es.
Nicht vanished. Es klang wie vanished, aber das war es nicht. Es war etwas viel Schlimmeres. Die
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