Die Beute
du schon zu Abend gegessen, Tom?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich sollte besser nach Hause fahren«, erklärte er und mied Jennys Blick.
»Ja, das solltest du«, bemerkte Mr Thornton von seinem Sessel aus – leise, aber vielsagend. Jennys Vater war ein kleiner Mann, aber wenn Blicke töten könnten, dann wäre sein durchdringender Blick eine Waffe gewesen. »Ich bin mir sicher, dass deine Eltern dich erwarten. Und sei das nächste Mal vor Einbruch der Dunkelheit zurück.«
Als die Tür sich hinter Tom schloss, sagte Jenny: »Es wird wahrscheinlich kein nächstes Mal geben.«
Jennys Mutter war verblüfft. »Jenny?«
Während ihre Eltern Blicke tauschten, ging Jenny in die Küche. Ihr Vater schüttelte den Kopf, dann wandte er sich wieder dem Time -Magazin zu.
Ihre Mutter folgte ihr.
»Meine Liebe – du kannst dich doch nicht darüber aufregen, dass wir dich früh zu Hause haben wollen. Wir versuchen nur, dich und Joey zu beschützen.«
»Das ist es nicht.« Jenny kämpfte mit den Tränen. »Es ist nur – ich glaube, Tom und ich werden uns trennen.«
Ihre Mutter starrte sie an. »Oh, Liebes!«
»Ja. Und ich weiß einfach nicht – oh, Mom, alles verändert sich!« Jenny warf sich ihrer Mutter in die Arme.
»Die Dinge verändern sich tatsächlich, Liebes. Du bist in einem Alter, in dem alles möglich ist. Ich weiß, wie beängstigend es sein kann, und das mit Tom tut mir leid, aber …«
Jenny schüttelte stumm den Kopf. Sie und ihre Mom hatten schon früher über das Erwachsenwerden geredet. Insgeheim hatte Jenny sich immer ein wenig überlegen gefühlt, wenn sie daran dachte, wie gut sie mit allem fertig wurde. Sie hatte alles geplant: Die Highschool mit Tom, das College mit Tom und dann, in einer wohlig verschwommenen Zukunft, die Hochzeit mit Tom, eine interessante Karriere und eine Weltreise. Nach der Weltreise Babys. Ein Junge und ein Mädchen. So einfach.
Sie hatte das Erwachsenwerden bereits bezwungen: Sie wusste genau, wie es sein würde.
Aber jetzt nicht mehr. Ihre wohlige Zukunft schien weit entfernt.
Sie löste sich von ihrer Mutter.
»Jenny … Jenny, da gibt es doch nichts, was du uns nicht erzählen würdest, oder? Zum Beispiel über Zach? Tante Lily macht sich nämlich wirklich Sorgen. Sie sagt, er benimmt sich so anders … Er scheint sogar das Interesse an seiner Fotografie verloren zu haben …«
Jenny konnte spüren, wie sie sich versteifte. »Worin zeigt sich das denn?«, hakte sie nach.
»Natürlich wissen wir, dass Zach – dass er Summer nichts getan hat. Aber war er nicht derjenige, der diese Geschichte erfunden hat? Und ihr habt sie alle geglaubt, weil er euch etwas bedeutet?« Es war als Theorie formuliert, aber Jenny war entsetzt.
»Nein!«, rief sie. »Und niemand hat sich diese Geschichte ausgedacht .« Jenny bemerkte, dass sich die goldbraunen Augen ihrer Mutter um einige Schattierungen verdunkelten und aus den Höhlen zu treten schienen. So sahen alle Eltern aus, wenn ihre Kinder von der Realität der Ereignisse jener Nacht berichteten. Sie hörten zu und glaubten einem, weil man ihr Kind war – aber in Wirklichkeit konnten sie einem nicht glauben. Also starrten sie einen am Ende wie höfliche Zombies an und dachten sich alle möglichen Ausflüchte aus.
»Niemand hat sich die Geschichte ausgedacht«, wiederholte Jenny müde. »Und hör mal – ich habe wirklich keinen Hunger.«
Sie flüchtete ins Wohnzimmer, wo Joey ein Videospiel spielte – aber es gab kein Entrinnen. Das Telefon klingelte.
Sie griff automatisch danach. »Hallo?«
Schhschhschhschhschhschhschhschhsch hschhschh.
Ein Frösteln überlief Jenny.
Das Rauschen dauerte an , aber es wurde von einem Flüstern überlagert. »A… ishhs hhshhed …«
»Joey, mach den Fernseher leiser!«
Das keuchende Flüstern erklang erneut und Jenny
konnte die Stimme der Hellseherin in ihrem Kopf hören. Verschwunden …
»Van-ishhshhshhed«, flüsterte es aus dem Telefon.
Jenny umklammerte den Hörer und spitzte die Ohren. »Wer ist da?« Plötzlich war sie eher wütend als verängstigt. Sie hatte die Visionen dieser wasserstoffblonden Hellseherin in der Leitung. Aber die Stimme schien einem Mann zu gehören, und sie hatte etwas Verzerrtes, das nicht allein mit einem ausländischen Akzent zu erklären war. Das Wort klang zwar wie vanished, verschwunden, aber …
Es klickte und dann hörte Jenny das Freizeichen.
»Was ist los?«, fragte ihre Mutter, die gerade hereinkam. »Hat jemand
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