Die Beute
flüsternde, verzerrte Stimme mit dem seltsamen Akzent sagte famished – ausgehungert.
Famished.
Jenny schleuderte das Telefon quer durch den Raum. Sie hatte eine Gänsehaut und Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Famished. Famished. Die Augen im Schrank. Die Schattenmänner.
Diese bösen, ausgehungerten Augen …
Damit ich dich besser fressen kann, meine Liebe.
»Es war diese Hellseherin«, sagte Dee prompt. »Für mich hat die ausgesehen wie eine, deren Hirn etwas von dem Peroxid abbekommen hat, mit dem sie ihre Haare färbt.«
»Nein«, widersprach Michael. »Weißt du, was es wirklich ist?« Jenny dachte, er wollte einen Scherz machen, aber ausnahmsweise war er ganz ernst. »Es ist die Kampfmüdigkeit. Unter der leiden wir alle. Wir sind dermaßen gestresst, dass wir Dinge sehen – und hören –, die gar nicht da sind.«
Am nächsten Tag saßen sie alle wieder auf dem Grashügel – bis auf Tom. Jenny war überrascht, dass Zach aufgetaucht war, nach dem, was sie ihm gestern Mittag gesagt hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich zurückziehen würde. Aber da saß er, die langen Beine unter sich gekreuzt, den aschblonden Kopf über sein Mittagessen gebeugt.
Jenny hatte keinen Appetit. »Die Anrufe waren keine Einbildung«, erklärte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Okay, der letzte hätte ein Traum sein können – ich habe meine Eltern schreiend aufgeweckt, und sie sagten, sie hätten das Telefon nicht gehört. Aber die anderen Male bin ich auf den Beinen gewesen, Mike. Ich war wach.«
»Nein, nein, ich behaupte ja auch nicht, dass die Anrufe nicht wirklich stattgefunden hätten. Was ich sagen will, ist: Das Telefon hat geläutet, vielleicht hat dir tats ächlich jemand etwas zugeflüstert – vielleicht war es auch nur das Rauschen –, aber du hast dir ausgemalt, was die Stimme sagt. Du hast die Geräusche interpretiert. Du hast erst vanished gehört, nachdem die Hellseherin vanished gesagt hatte, richtig?«
»Ja«, antwortete Jenny langsam. In der hellen Maisonne wirkte das Grauen der vergangenen Nacht viel weniger real. »Aber ich habe es mir nicht eingebildet. Ich habe die Geräusche schon beim ersten Mal gehört, als das Telefon in der Schule klingelte, und am Ende wurden sie klarer. Und das Wort ergab einen Sinn. Nicht vanished, sondern famished – es passt zu diesen Augen.«
»Aber genau das ist doch der Grund, warum du es direingebildet hast.« Michael schwenkte eine Schachtel Cracker Jack und sprach eifrig weiter. »Vielleicht ist eingebildet nicht das richtige Wort. Verstehst du, dein Gehirn ist ein System, das die Realität gestaltet. Es nimmt den Input, den es über deine Sinneswahrnehmung bekommt, und konstruiert daraus das plausibelste Modell. Aber wenn du total gestresst bist, kann es aus diesem Input ein falsches Modell formen – wie jemanden, der am Telefon Unsinn flüstert. Dein Gehirn hört etwas, das nicht da ist. Aber es erscheint dir real, weil es für dein Gehirn real ist.«
Dee runzelte die Stirn; die Idee, sich nicht auf ihr Gehirn verlassen zu können, gefiel ihr offensichtlich nicht. »Ja, aber es ist nicht real.«
»Es ist so real wie jedes andere Modell, das dein Gehirn den ganzen Tag über konstruiert. Zum Beispiel habe ich gestern Abend im Wohnzimmer Hausaufgaben gemacht und mein Gehirn hat ein Modell von einem Couchtisch geformt. Meine Augen haben dem Hirn Holz und rechteckig gemeldet und es hat das Ganze zu Couchtisch kombiniert und ich habe ihn erkannt. Aber wenn ich gestresst gewesen wäre, hätte ich vielleicht Holz und rechteckig gesehen, und mein Gehirn hätte daraus das Modell eines Sarges gemacht. Vor allem wenn ich nicht geschlafen hätte oder bereits über Särge nachgedacht hätte. Verstehst du?«
Jenny verstand es einigermaßen.
»Aber der Sarg wäre trotzdem nicht real «, wandte Dee ein.
»Aber woher sollte ich das wissen?«
»Ganz leicht. Du könntest ihn berühren …«
»Berührung ist auch nur ein weiterer Sinn. Man könnte ihn ebenfalls täuschen. Nein, wenn ein Modell gut genug ist, besteht keine Möglichkeit zu erkennen, dass es nicht real ist«, erklärte Michael weiter.
Das ergibt Sinn, dachte Jenny. Wie der Hund gestern Abend. Sie hatte sich vor Schatten erschreckt, weil sie solche Angst gehabt hatte.
Sie lehnte sich auf dem Hügel zurück und atmete hörbar
aus. Der Knoten in ihrem Magen hatte sich ein klein wenig gelockert – und jetzt konnte sie sich um andere Dinge Sorgen machen.
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