Die Beute
langes Haar war vollkommen glatt bis auf den leichten Schwung an den Spitzen und ihre dunklen Augen blickten nachdenklich. Sie ging nicht
auf die Vista Grande High, Jenny hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Jenny legte die Bürste beiseite, ging zu ihr und sah ihr direkt in die Augen. Das Mädchen wirkte erschrocken.
»Warum weinst du?«, fragte Jenny sanft.
»Warum sollte dich das interessieren? Du reiche Tussi. Hast in der Schule teure Klamotten an und hängst mit deinen reichen Freunden ab …«
»Wer ist reich? Und was haben meine Sachen damit zu tun?« Jenny zog die Augenbrauen zusammen. Demonstrativ betrachtete sie die modisch zerfetzten Designerjeans des Mädchens.
Aber das Mädchen ließ sich nicht beirren. »Tussi …«
Da verlor Jenny die Geduld.
»Ich bin keine Tussi«, sagte sie ärgerlich und packte das Mädchen. »Ich bin ein menschliches Wesen. Genau wie du. Also, was ist dein Problem?«
Das Mädchen wehrte sich und wand sich unter Jennys Händen und Jenny spürte die kleinen Knochen in ihren Schultern. Schließlich platzte es aus ihr heraus: »P.C. war mein Freund«, schrie sie Jenny ins Gesicht. »Er hat diesem Mädchen niemals etwas angetan. Aber du und deine sauberen Freunde, ihr habt was getan, etwas so Schlimmes, dass ihr ihren Leichnam verstecken und diese Lügen erzählen musstet. Aber wart’s nur ab. Ich kann beweisen, dass P.C. nichts gemacht hat. Ich kann es beweisen .«
Trotz des warmen Wetters stellten sich die Härchen auf Jennys Armen auf. Ihre Fingerspitzen kribbelten.
»Wie meinst du das?«
Irgendetwas in ihrem Gesicht musste das Mädchen erschreckt haben. »Vergiss es.«
»Nein, du sagst es mir. Wie willst du es beweisen? Hast du …«
»Lass mich los !«
Ich bin ziemlich grob, merkte Jenny. Dabei bin ich sonst niemals grob. Aber sie konnte nicht aufhören. Ein Frösteln überlief sie; sie wollte es wissen, sie wollte es aus dem Mädchen herausschütteln.
»Hast du ihn gesehen oder so?«, fragte sie scharf. »Ist er am nächsten Morgen allein nach Hause gekommen? Hast du gesehen, was er mit dem Papierhaus …«
Ihr Schienbein explodierte fast vor Schmerz. Jennys Griff lockerte sich, das Mädchen riss sich los und rannte zur Toilettentür.
»Warte! Du verstehst nicht …«
Das Mädchen zog die Tür auf und huschte hinaus. Jenny sprang hinter ihr her, aber als sie den Gang entlangschaute, war das Mädchen fort. Nur einige verdrehte Kleenexfetzen lagen auf dem Betonboden.
Jenny humpelte um die Ecke zum Schließfach-Bereich und sah sich um. Nichts als Schüler und Schließfächer. Dann stolperte sie zurück und spähte über das Geländer des offenen Treppenhauses in den Innenhof. Nichts als Schüler und ihr Mittagessen.
Jung. Das Mädchen war noch ziemlich jung gewesen, wahrscheinlich eine Neuntklässlerin. Vielleicht war sie von der Magnolia Junior High gekommen. Die war in Gehweite.
Wer immer sie war, Jenny musste sie finden. Denn sie hatte etwas gesehen. Sie könnte etwas wissen …
Ich habe meine Tasche in der Toilette liegen lassen, durchzuckte es Jenny. Sie ging zurück, um sie zu holen.
Als sie langsam und nachdenklich wieder aus der Toilette herauskam, klingelte das Münztelefon neben der Tür. Jenny schaute sich um – zwei Lehrer schlossen gerade ein Klassenzimmer ab, Schüler strömten zu beiden Seiten des Korridors die Treppen herunter. Niemand schien auf einen Anruf zu warten, niemand schien zu bemerken, dass das Telefon klingelte.
Jenny nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte sie und kam sich im selben Augenblick völlig albern vor.
Rauschen. Ein Klicken. Dann das leise Flüstern einer Männerstimme. Es klang verzerrt und schleppend, wie ein einziges Wort, das wieder und wieder gestammelt wurde.
A wie Anton. Dann ein ziehender, rauschender Seufzer: ish. A…ish…
Kauderwelsch.
»Hallo?«
Schhschhschhschhschhschhschh. Klick. Im Hintergrund hörte sie ein scharfes, explodierendes Stakkato in einem
unheimlichen Rhythmus. Vielleicht irgendeine Sprache. Eine sehr fremdartige Sprache.
Schlechte Verbindung, dachte Jenny und legte auf.
Ihre Fingerspitzen kribbelten wieder. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, über dieses Telefonat nachzudenken. Sie musste dieses Mädchen finden.
Am besten sage ich den anderen Bescheid, dachte Jenny.
Zuerst versuchte sie, Tom in seinem Wirtschaftsrecht-Kurs zu finden, aber er war nicht da. Also machte sie sich auf den Weg über den Campus, vorbei an den vielen Schülern, die ihre Lieblingsbänke in Beschlag
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