Die Beute
denke, sie müsste auch da sein.«
Jenny schloss die Augen und dachte an das trockene Rascheln auf dem Boden des Computerraumes. Die Berührung an ihrem Bein. Das Zischen.
»Oh Gott – dann war alles real «, stöhnte sie. »Und die Telefonanrufe … alles echt. Die Stimme hat wirklich gesagt …« Sie konnte den Satz nicht beenden.
»Modelle in deinem Gehirn, dass ich nicht lache«, schnaubte Dee in Michaels Richtung.
Michael sah elend aus. Er neigte den Kopf und raufte sich mit beiden Händen das Haar.
»Und die Träume?«, fragte Audrey mit dünner Stimme. »Ihr denkt, das ist wirklich geschehen? Dass da irgendein – Ding – mit mir in meinem Bett war?«
»Hört sich so an«, erwiderte Zach mit ironischer Befriedigung. »Oder vielleicht kann Julian uns einfach dazu bringen, das zu träumen, was er will.«
»Wir müssen irgendetwas tun«, stellte Dee fest.
»Was denn zum Beispiel?« Zachs graue Augen funkelten vernichtend. »Was können wir gegen Julian ausrichten? Und gegen diese Schlange und diesen Wolf. Erinnert ihr euch nicht mehr, wie sie ausgesehen haben?«
»Ich glaube übrigens, dass sie diejenigen sind, die Gordie Wilson getötet haben«, sagte Tom leise. »Ich bin dort gewesen, an der Stelle, wo man ihn gefunden hat.«
»Oh, klasse. Wir haben also nicht die geringste Chance«, bemerkte Michael.
»Hört mal, wir stehen jetzt alle unter Schock«, meldete Dee sich wieder zu Wort. »Wir sollten uns dieses Wochenende bei jemandem zu Hause treffen und Pläne schmieden. Wir können den ganzen Samstag zum Nachdenken nutzen.«
»Vielleicht könnten wir uns bei Tom treffen«, schlug Michael vor. »Ich werde ohnehin dort sein, mein Dad fährt nämlich für eine Woche nach New York.«
Audrey sah Jenny an, dann Tom. Sie strich sich mit einem Finger über die stachligen Wimpern.
»Ich sage es nicht gern, aber Jenny und ich können nicht«, erklärte sie. »Ihr vergesst den Abschlussball der zwölften Klasse.«
Tom schaute auf. »Was?«
»Jenny und ich«, sagte Audrey hilflos, »gehen zum Schulball der Oberstufe.«
»Mit Brian Dettlinger und Eric Rankin«, ergänzte Michael. Geteiltes Leid ist halbes Leid, drückte seine Stimme aus.
Tom starrte Jenny an. Sein Gesicht war kreideweiß, die grünen Einsprengsel in seinen Augen schienen aufzulodern. Sein Mund war schief und zitterte. Jenny sah ihn entsetzt an, ihr Kopf war vollkommen leer.
Dann sagte Tom langsam: »Ich verstehe.«
»Nein«, flüsterte Jenny erschüttert. Noch nie zuvor hatte sie Tom so gesehen. Nicht als seine Großmutter gestorben war, nicht als sein Vater einen Herzinfarkt gehabt hatte. Tom Locke, der Unverwundbare, hatte nicht so ein Gesicht.
»Es ist okay. Ich hätte damit rechnen sollen.« Er stand auf.
»Tom …«
»Du dürftest sicher sein. Wie gesagt, ich glaube nicht, dass sie dir etwas antun werden.«
»Tom – oh Gott, Tom …«
Er ging zur Tür hinaus.
Jenny fuhr auf und wirbelte zu Audrey und Michael herum. »Seid ihr jetzt glücklich? Ihr habt ihn dazu gebracht zu gehen!«
»Denkst du, das bedeutet, dass er mich übers Wochenende nicht will?«, fragte Michael, aber Dee blieb ernst.
»Er war nicht wirklich hier, Jenny. Er will es nicht länger, Schätzchen, und du kannst ihn nicht dazu zwingen.«
Jenny wartete einen Augenblick, während sie Dees Worte langsam verdaute. Es war die Wahrheit. Daran gab es nichts zu rütteln. Jenny hatte in diesem Moment nichts verloren, weil es für sie nichts mehr zu verlieren gab.
Sie setzte sich wieder hin und sagte dumpf: »Offensichtlich. Aber ich glaube auch nicht, dass es die Sache besser machen wird, wenn ich mit Brian zum Schulball gehe.« Sie sah Audrey an.
Audrey weigerte sich jedoch, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Wer weiß? Er wird vielleicht anders empfinden, wenn du es tatsächlich tust.«
»Ich werde es aber nicht tun.«
»Also wirst du Brian anrufen und ihn im letzten Augenblick versetzen?«
»Ja.« Jenny tastete in ihrer Handtasche nach ihrem Adressbuch. Dann ging sie zu Audreys goldweißem, antikem Telefon und wählte.
»Hallo, Brian? Hier ist Jenny …«
»Jenny! Ich bin so froh, dass du anrufst.«
Jenny geriet ins Stocken. »Ach ja?«
»Ja, ich wollte dich auch anrufen – hör mal, ich bin so dumm. Ich habe vergessen, dich zu fragen, welche Farbe dein Kleid hat.«
»Mein Kleid?«
»Ich weiß, ich hätte früher fragen sollen.« Seine Stimme war voller jungenhafter Begeisterung. »Aber es ist nicht so, als hätte ich nicht daran
Weitere Kostenlose Bücher