Die Beute
zeichneten ihre nassen Wangenknochen nach und der Daumen wischte die Tränen weg. Jenny schloss unwillkürlich die Augen.
»Zusammen für immer.«
Die kühlen Fingerspitzen strichen über ihre Wimpern, schoben ihr das Haar aus den Schläfen. Sie spürte, wie eine Fingerspitze ihre Augenbraue nachzeichnete.
»Es war uns so bestimmt, Jenny. Das weißt du. Du kannst nicht länger dagegen ankämpfen.«
Der Finger lief an ihrer Wange hinunter wie eine kühle Träne. Er zeichnete die Umrisse ihrer Lippen nach, die Grenze zwischen Ober- und Unterlippe. Eine Berührung, so leicht, dass sie sie kaum fühlen konnte. Ihre Beine wurden zu Gummi.
Schmelzen, fallen …
»Komm mit mir, Jenny.« Seine Fingerspitzen streiften ihr Kinn und sie erschauerte. Sie merkte, dass ihr Nacken nach hinten gebeugt war, ihr Gesicht emporgewandt wie für einen Kuss. »Ich werde mit dir gehen. Es wird Zeit, das Spiel verloren zu geben. Zu kapitulieren …«
Ein winziger Hoffnungsschimmer glimmte in Jennys Kopf auf.
Kein Wolf und keine Schlange. Und sie waren immer noch in Zachs Küche, die sie so gut kannte. Und das Loch war direkt hinter Julian – und direkt dahinter die Tür zur Garage …
»In Ordnung«, flüsterte sie. »In Ordnung, aber lass mich los. Ich kann selbst gehen.«
Die Überraschung ist das Wichtigste bei einem Angriff, sagte Dee immer. Gib deinem Gegner keine Sekunde Zeit zum Nachdenken.
Sobald Julian seinen Griff lockerte, gab Jenny ihm einen Schubs.
Sie dachte nicht darüber nach, sie stieß einfach zu, so fest sie konnte. Und er war tatsächlich überrascht. Selbst seine schlangenschnellen Reflexe konnten ihn nicht retten. Mit einem Schrei fiel der Schattenmann rückwärts in seinen eigenen schwarzen Strudel.
Im selben Moment sprang Jenny über das Loch hinweg.
Ein Sprung direkt in die Dunkelheit. Wenn sie sich
verschätzt hatte, würde sie gegen die Wand prallen und ohnmächtig werden. Ihre Hände schlugen gegen die Tür, sie kippte fast nach hinten um – aber sie verlor nicht das Gleichgewicht. Ihre Finger rissen am Türknauf – und dann war sie in der Garage.
Zachs Taschenlampe hing an der Wand. Zumindest betete Jenny, dass sie dort hing. Furchtlos flog sie durch die Garage und tastete danach. Julian würde nicht lange brauchen, um sich aufzurappeln – er konnte jeden Moment hier sein …
Taschenlampe! Jenny betätigte den Schalter. Noch nie war sie so froh darüber gewesen wie jetzt, den hellen, runden Strahl zu sehen. Licht, endlich Licht.
Sie richtete den Strahl auf die Wand und betrachtete mit ruhiger Gewissheit das, weshalb sie gekommen war. Die wandgroße Fotografie, die Zach in der Cafeteria der Highschool gemacht hatte.
Julian hatte gesagt, dass Schwarz und Weiß gemischt so viele Farben ergäben – aber er hatte kein Foto erwähnt. Ein Foto – ein Abbild der Realität –, auf dem eine Tür zu sehen war. Die Ausgangstür, von der Pyramide beinahe blockiert, eine Tür in den Schatten hinter den Tischen. Eine Tür, durch die Jenny im richtigen Leben viele Male gegangen war. Aber durch die auf dem Foto war sie nie gegangen – weil sich diese naturgemäß nicht öffnen ließ.
Es sei denn, es handelte sich wie auf dem Wandbild in der Montevideo Street um eine Tür in die Unwirklichkeit.
In einen Raum auf halbem Wege zur Schattenwelt, wie der Spieleladen. Julian konnte Bilder real werden lassen. Er konnte Poster und Wandgemälde zum Leben erwecken. Wenn Jenny dieses Bild auf die richtige Weise betrachtete …
Als Jenny jetzt die Tür anstarrte, schien ein Knauf hervorzutreten. Dreidimensional. Wie der Türknauf des Noch-mehr-Spiele-Ladens, der aus dem Wandbild geragt hatte.
»Jenny!«
Julians Stimme hinter ihr, scharf und gefährlich. Die Taschenlampe erlosch.
Aber Jenny hatte sich gemerkt, wo der Knauf war. Sie streckte die Hand in die Dunkelheit aus. Ihre Finger streiften etwas Kaltes. Echtes Metall in ihrer Hand. Sie hatte ihn!
Sie zog.
Rauschender Wind umgab sie. Das kalte Metall schien unter ihren Fingern zu schmelzen und sie fiel. Ihr Schrei wurde von dem Donnern des Sturms übertönt.
Sie hatte noch nie jemanden so überrascht gesehen wie Audrey, Zach, Dee, Tom und Michael. Sie starrten sie an, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, als sie vorwärtstaumelte und auf den Knien landete.
Was ist da gerade passiert …?, fragte sich Jenny verwirrt, aber bevor sie zurückblicken konnte, war sie von den anderen umringt.
»Du bist durch die Tür gekommen«,
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