Die Beutefrau
Gerswind und Carolino das Tor geöffnet hatte, führte sie stumm zu einer uralten Frau, die in einem kleinen Zimmer am Pult stand und mit einem großen Bergkristall über eine Schrift fuhr.
»Das ist mein Lesestein«, sagte sie lächelnd, als sie sich an die Besucher wandte. »Ich habe entdeckt, daß die Buchstaben größer werden, wenn ich ihn aufs Pergament lege. Damit hat mir Gott ein paar zusätzliche Jahre des Studierens geschenkt.« Versonnen musterte sie Carolino. »Du hast die gleichen Augen wie deine Großmutter; sie war eine bemerkenswerte und sehr weise Frau, der ich vor vielen Jahren einmal in Prüm begegnet bin. Sie war eine gute Freundin unseres großen Bonifatius. Er hat sie ja auch zur Königin gesalbt. Und wer bist du, mein Kind?« wandte sie sich an Gerswind.
»Ich bin die Tochter des Sachsen Widukind und lebe in Aachen am Königshof.« Gerswind mußte laut sprechen, um die Gongschläge zu übertönen, die jetzt durch die Abtei hallten, doch sie wollte Carolino zuvorkommen, damit er sie nicht wieder als ›Verwandte des Königs‹ ausgeben konnte. »Und wenn es möglich ist, würde ich hier gern in der Kirche beten.«
Äbtissin Reginfledis lächelte sie warmherzig an. »Ihr könnt am Vespergottesdienst teilnehmen, der gleich beginnt. Danach seid ihr herzlich zu unserer Abendmahlzeit eingeladen.« Sie wandte sich an Carolino. »Deine männlichen Begleiter werden natürlich im Gästehaus speisen, und du wirst dort auch mit ihnen nächtigen. Widukinds Tochter – wenn ich mich recht entsinne, heißt du dann Heilwig, oder etwa nicht, mein Kind? – schläft bei mir im Haus und …«
»Heilwig ist meine Schwester«, unterbrach Gerswind die Äbtissin leise. »Ich bin Gerswind.« Ihre Kehle war mit einem Mal sehr trocken.
»Bitte, was sagtest du?« fragte die Äbtissin leicht verwirrt.
»Gerswind! Ich heiße Gerswind!«
»Ah, Gislind, wie dumm von mir! Die gute Heilwig ist ja in Bayern verheiratet. Und Widukinds Sohn Wigbert gehört auch zu unserem Orden. Herrje, er ist ja dein Bruder! Verzeiht, meine Kinder, daß mein Mundwerk mit mir davonläuft – wie ihr sicher wißt, hat es hier sehr wenig zu tun, da wir uns mehr der Schrift als der Rede widmen. Denke also bitte daran, Gislind, daß du nach dem Komplet bis zum Nachtgottesdienst keine der Schwestern ansprechen darfst, da zu dieser Zeit absolutes Redeverbot herrscht. Am liebsten auch nicht davor, da einige Schwestern sich ein einwöchiges Schweigegelübde auferlegt haben und nicht jeder unsere Zeichen versteht. Einige solltet ihr allerdings bei der Abendmahlzeit berücksichtigen. Wer Käse haben will, preßt die Hände aneinander, wer mehr Fisch wünscht, macht eine Schwimmbewegung. Für Brot formt man mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, und wer Essig wünscht, greift sich an die Gurgel. Ich bin dem Schweigegelübde nicht unterworfen, schon gar nicht, wenn ich Gäste zu betreuen habe, was mich sehr freut, denn ich habe euch einiges zu erzählen. Wenn ihr …«
Gerswind warf laut dazwischen, daß sie jetzt gern in der Kapelle beten würde, doch die Äbtissin schien im Augenblick für nichts als ihre eigene Stimme Gehör zu haben.
»… wollt, zeige ich euch auch gern unsere wunderschöne Anlage. Stellt euch vor, wir haben seit kurzem sogar ein eigenes Aderlaßhaus und, was noch bemerkenswerter ist, eine Leseschule für die adligen Töchter der Umgebung. Das haben wir deinem Vater zu verdanken, lieber Karl, der Gelehrtheit nicht nur den Knaben zukommen …«
»Mein Vater läßt herzlich grüßen«, trompete Carolino, der schon seit geraumer Zeit Ansätze zum Sprechen gemacht hatte, aber seine Worte waren ungehört verhallt. »Er schickt seine Verehrung und dieses Geschenk.«
Er überreichte der Äbtissin den Aulos.
»Kann ich jetzt in die Kapelle gehen?« fragte Gerswind mit erhobener Stimme.
»Ein Aulos für unsere Kapelle, wie schön!« rief die Äbtissin begeistert. »Wißt ihr, daß griechische Aulosspieler mit zwei Auloi an den Lippen dargestellt wurden? Die Griechen hielten übrigens ihre Göttin Athene für die Erfinderin des Aulos. Sie soll damit das Wehklagen ihrer Medusenschwestern auf ein Instrument übertragen und es so zur Kunst erhoben haben. Wehklagen als melodische Kunst, das kann sich kein Christ ausgedacht haben! Überhaupt könnten wir von den Göttern der Griechen und Germanen noch so einiges lernen. Das sage ich euch natürlich nur im Vertrauen, denn einfältigere Gemüter würden nie begreifen, daß all die
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