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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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verlassen zu haben. Immer wieder sagte sie sich, daß sie nun endlich in der Lage sei, ihren geliebten Carolino zu beglücken, daß sie ihm jetzt näher war als je zuvor, ihn halten, herzen und liebkosen durfte. Wie undankbar, keine Freude darüber zu empfinden, wie seltsam, daß sie dieser innigen Zweisamkeit kein Glücksgefühl abringen konnte, daß es ihr nicht gelingen wollte, alles, was nicht mit diesem Augenblick zu tun hatte, aus Herz und Hirn zu verbannen. Mein armer Carolino. Irgendwann schien dieses Selbstgespräch zu wirken, denn das Gesicht Ludwigs verschwand vor ihrem geistigen Auge. Doch sie konnte denken, was sie wollte: Des Königs Antlitz blieb.
    Kurz bevor sie einschlief, ging ihr ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Ich bin am Ende meines Traums angelangt und werde gleich aufwachen.
    Sie erwachte mit einem Ruck. Durch das Blätterdach des Waldes schien ihr der Vollmond ins Gesicht. Verwirrt setzte sie sich auf und blickte auf die schlafenden Gestalten um sich. Kein Wunder, daß ihr Pferd in der Vornacht gestohlen worden war: Der Ritter, der Wache halten sollte, war an dem Baum, an dem er gelehnt hatte, zusammengesackt und schnarchte laut.
    Gerswind war hellwach. An einen Traum konnte sie sich nicht erinnern, aber es kam ihr vor, als ob sie gerufen worden sei. In ihrem Kopf hörte sie diesen seltsamen Ruf noch immer. Er war lautlos, hatte keine Worte, kein Bild und keine Schrift. Sie wußte nur, daß sie ihm folgen mußte. Langsam stand sie auf und ging in die Richtung, die ihr gewiesen wurde, ohne daß sie hätte sagen können, wie sie diese Angaben erhielt. Sie wußte genau, wohin sie zu gehen hatte, es schien fast ein Pfad zu sein, denn sie mußte sich nicht bücken, keine Zweige zur Seite schieben und keinem Ameisenhaufen ausweichen. Eine Erinnerung stieg in ihr auf: So hatte sie den Wald als Kind erlebt. Er ist mir nicht verlorengegangen, dachte sie voller Glück.
    Sie wußte nicht, wie weit sie noch zu gehen hatte, sie wußte nur, daß ihr ein Ziel bestimmt war. Ein Käuzchen rief. Sie blieb stehen. Und da sah sie ihn. Den hohen weißen Stein mit einer fast spiegelglatten Fläche, in die einige Zeichen eingeritzt waren und an der sich Wildblumen emporrankten.
    »Stätte der Macht«, flüsterte sie voller Ehrfurcht und sank auf die Knie. Wie eine weiße Flut ergossen sich ihre Haare über den Waldboden, als sie mit der Stirn das Moos berührte. Und dann hörte sie ihn. Teles sprach zu ihr. Sie wußte nicht, ob seine Stimme aus dem Felsen kam, aus dem Moos, vom Vollmond oder aus ihrem eigenen Kopf. Die Stimme des Griechen schien überall um sie herum zu sein, deutlich vernehmbar und so kräftig wie schon seit langem nicht mehr.
    »Willkommen, Gerswind, ich bin bei dir. Ich war es, seitdem du den Königshof betreten hast. Denn seit dem Tod der drei Menschen, die ich mehr als mich selbst liebte, warst du mir der nächste. Du weißt, daß ich jetzt von dir Abschied nehme. In einer Welt der Vollkommenheit werden wir uns wiedersehen, mein Kind, doch zunächst wirst du in dieser Welt der Unzulänglichkeit noch viel bewegen. Die Nachfahren werden dein Lied nicht singen, dir keine Lorbeerkränze aufsetzen, dein Antlitz auf keiner Wand abbilden, deinen Namen nicht in Marmor hauen. Und doch wirst du, meine Gerswind, wie ein Hauch in die Geschichte der Menschheit eingehen und jenen einzelnen Botschaft geben, die diesen Hauch verspüren und deiner Hilfe bedürfen. Denn du bist von allen Gottheiten gesegnet, vom Gott der Christenheit, der so mächtig ist, daß alle griechischen, germanischen, nordischen und anderen bekannten Götter der Welt in ihm aufgehen. Er ist die Ordnung der Sterne, der Verzweiflung, der Freude, des Gelingens, des Scheiterns und des Herzens, und du bist ihm eine Kaiserin. Du wirst deinen Weg gehen und immer wissen, was recht ist, auch wenn du zweifelst, zögerst, haderst und dich unglücklich fühlst. Dein Herz wird immer dein Wegweiser sein. Hör darauf, und leb wohl, mein Kind. Sei nicht traurig. Ich gehe jetzt dorthin, wo die Ungeborenen weilen. Weine um mich, wenn es dir Erleichterung verschafft, aber ich freue mich, daß ich jetzt diesen hinfälligen, nutzlos gewordenen und störenden Körper verlassen und zu anderen Kräften kommen darf. Freue dich für mich, wenn du kannst.«
    Gerswind hob das Haupt.
    »Bitte warte auf mich, ich will dich noch einmal sehen, Teles!« rief sie, so angestrengt gegen die weiße Fläche starrend, daß ihre Augen zu brennen begannen.
    Doch es schob

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