Die Bibel
den Zukurzgekommenen ist unausrottbar. Rivalität gehört zum Menschsein.
Daher fragt Gott den Kain in uns:
Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?
Gott weiß, wie es in Kain brodelt, deshalb versucht er, Kain zur Vernunft zu bringen. Die Sünde lauert vor der Tür.
Du aber sollst über sie herrschen!
Zum Erwachsenwerden gehört, dass man zu seinem Schicksal steht, es erhobenen Hauptes annimmt und mit Würde trägt, statt mit gesenktem Blick anklagend, neidzerfressen und Mordgedanken hegend auf die vermeintlich Bessergestellten zu schielen. Darum sagt Gott: Reiß dich zusammen, Kain, zügle deinen Zorn, mäßige dich, beherrsche dich.
Aber Kain schweigt, hebt seinen Blick nicht.
Der Erzähler will verstehen, was in Kain vorgeht, warum er zum Mörder wird und wie so ein Mensch nach vollbrachter Tat lebt.
Und er hat verstanden: Gewalt entsteht keinesfalls aus demNichts. Wohl gibt es äußere Umstände. Aber, sagt der Erzähler, dass darüber einer zum Mörder wird, das ist dem Mörder zuzuschreiben, nicht den Umständen.
Der Erzähler nimmt den Menschen ernst. «Du sollst über die Sünde herrschen» heißt, du bist ein freier Mensch und nicht das Opfer äußerer Umstände. Diese mögen dich zum Handeln drängen, aber ob du diesem Drängen nachgibst, liegt an dir.
Kain aber schweigt. Er glaubt, dem Druck nicht mehr widerstehen zu können. Ich kann nicht mehr anders, sagt es in ihm. Damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf.
Nachdem Gott seinen Fluch über ihn ausgesprochen hat –
wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben, unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden –,
jammert Kain, seine Strafe sei zu schwer, und er fürchte sich, selber totgeschlagen zu werden. Der Täter fühlt sich als Opfer.
Eigentlich habe Kain ja sein Leben verwirkt, suggeriert uns der Erzähler, der vermutlich fünf oder sechs Jahrhunderte vor Christus lebte und gewiss etliche außerjüdische Varianten der Kain-und-Abel-Sage kannte. Vermutlich haben diese Varianten auch stets mit dem Tod des Bruder-Mörders geendet.
Aber die biblische Erzählung endet überraschend optimistisch:
Wer Kain totschlägt,
sagt Gott,
der zieht sich siebenfache Rache zu! Und Gott gab dem Kain ein Zeichen, damit ihn niemand erschlage, wenn er ihn fände.
Das Kainszeichen ist also kein Schandmal, zu dem es später uminterpretiert wurde, sondern ein Schutzzeichen. Der Mörder soll leben können. Seine Tat wird nicht entschuldigt, nicht beschönigt, nicht vergessen. Aber er soll nicht auf seine Tat reduziert werden, soll Mensch und Geschöpf Gottes bleiben dürfen. Eine andere, bessere Zukunft soll ihm nicht verbaut werden.
Du bist ein Gezeichneter, sagt die Geschichte, aber trotz des Verbrechens, trotz des erneuten Versagens will Gott seine Geschichte mit den Menschen fortsetzen.
Kain gewinnt später die Liebe einer Frau, die ihm mehrere Kinder gebärt. Eva wird noch einmal schwanger und gebärt den Seth. Adam, Kain und Seth heißen die Väter der Menschheit. Einer der drei war ein Mörder.
Sintflut – und das Leben geht weiter
Kain darf weiterleben. Ihm folgen Kinder, Enkel, Urenkel und in der siebten Generation ein Nachfahre namens Lamech, der zwei Frauen heiratet und eines Tages prahlt, er habe zwei Männer erschlagen, aus Vergeltung.
Denn Kain
, sagt Lamech,
wird siebenfach gerächt, Lamech aber siebenundsiebzigfach
.
Tatsächlich hatte Gott erklärt, wer Kain totschlage, habe mit siebenfacher Rache zu rechnen. So wurde die Blutrache eingeführt. Sie ist nicht das letzte Wort in der Bibel, sondern eines der ersten. Später wird es heißen:
Auge um Auge, Zahn um Zahn
– die maßlose Vergeltung soll ein Ende haben, die Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen. Und auch dabei bleibt es nicht. Jesus wird sagen:
Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Im Paradies ging das Vertrauen des Menschen zu Gott verloren, auch das Misstrauen untereinander wuchs. Angst, Rivalität und Gewalt waren die Folge. Die Blutrache war ein erster Versuch, die Gewalt zu bändigen – durch Abschreckung. In der siebten Generation verlangt der gekränkte Mensch nach siebenundsiebzigfacher Strafe, um seinen Rachedurst zu stillen, und er vollzieht sie selber. Eigentlich hatte sich Gott diese Strafe vorbehalten. Wie aber kann der Gewalt Einhalt geboten werden?
Gott, so erfahren wir nun am Ende des sechsten Kapitels derGenesis, dem ersten Buch Mose,
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