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Die Bibel für Eilige

Titel: Die Bibel für Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Lamm in der Offenbarung, der enttäuschende König, der zurechtweisende Freund, der unverstandene
     Bruder, der sanfte Revolutionär, |151| der fremde Weggefährte. Titel um Titel fände ich für ihn – viele Hoheitstitel für seine Erniedrigung –, für ihn, der keinen
     Titel braucht, um wer zu sein.
    Er hat eine Größe, die mich nicht klein macht. (Vergleiche Lukas 9)
     
    »Mein Jesus« hängt als Torso an der Wand, ohne Arme, Beinstummel, rechtsseitig wurmzerfressen bis zur Hüfte, klaffende Wunden,
     den Kopf zur Seite geneigt, halboffener Mund, abgebrochene Nase, geschlossene Augen – so hängt er an der Wand des Raumes,
     in dem wir Gottesdienst feiern. Ich sehe ihn jeden Tag, ich gehe jeden Tag an ihm vorüber, ich habe mich noch nicht an ihn
     gewöhnt. Ich hoffe, dass ich mich nie an ihn gewöhne.
    Sein Körper ragt als Schrei in die Welt.
    2003 n. Chr., so zählen wir, als ob er die vollzogene Wende der Zeit sei. Und da hängt er als der vermoderte, aufgerissene,
     abgerissene, abgehackte Holzkörper. Ich muss anders zählen, wenn ich ihn ansehe: 58 n. A., 58 nach Auschwitz, 58 n. H., 58
     nach Hiroshima, 58 Jahre danach, der geschundene, verbrannte, verstümmelte Menschensohn. Es ist abschreckend, wie er zugerichtet
     ist. Die Folgen unserer Abschreckung sehe ich an ihm voraus. Das unbefleckte Lamm, ein verstümmelter Leichnam. So hängt er
     an der Wand, vorweggenommene Apokalypse.
    Ich sehe den Unansehnlichen an. Dieses Stück Holz spricht mich an. Das geht nicht, das ist unerträglich, das ist eine Zumutung,
     sagen viele. Und ich kann sie verstehen. In der Tat: eine Zumutung, ein Skandal, keine gute Lösung für unsere Wand, keine
     gute Lösung. Ein Eichenkreuz, neu und unversehrt und glatt, trägt den Torso.
    Es macht ihn erträglicher, jedenfalls optisch.
    Ich sehe an ihm etwas, das mich ganz tief berührt:
    der geneigte Kopf ist zugeneigt, mir zugeneigt.
    |152| Jesus ist für mich Zuneigung, letzte Zuneigung, Zuneigung noch im Letzten …
    Der Erbarmungswürdige erbarmt sich. (Vergleiche Jesaja 53)
     
    »Mein Jesus« schreibt in den Sand, in die Geschichte, die mich am meisten bewegt. Sie gilt als »unecht«.
    Sie hat ein Sternchen in meiner Bibel. Sie steht in eckigen Klammern. Sie ist von anderer Hand. Schon sehr früh wurde sie
     verschieden eingeordnet. Nirgends passt sie richtig hin. Sie passt nicht in unsere Ordnungen. So kann diese Geschichte nur
     unecht sein, historisch wie ideologisch. Eine Frau, eine Ehebrecherin, wird vor ihn geschleppt. Sie hat sowieso keine Chance
     mehr, und er soll auch keine haben. Wo kämen wir hin mit einer Liebe ohne Ordnung. Jesus, zum Richter bestellt, zum Vollstrecker
     geschriebener Gesetze, schweigt, bückt sich, schreibt in den Sand. Er gibt Bedenkzeit. Sie aber denken, er brauche Bedenkzeit.
     Sie fragen ihn nochmals nach seinem Urteil. Sie bedrängen ihn. Wird er gegen die Autorität des Gesetzes antreten? Kraft welcher
     Autorität? Der Fall liegt klar. Es gilt, nur zu bestätigen, was ohnehin geschehen wird: Steinigung.
    Da richtet er sich auf, richtet seinen Blick nicht auf die Beschuldigte, sondern auf die Beschuldiger. Es soll Recht sprechen,
     wer selber gerecht ist. Es soll Schuld sühnen, wer selber ohne Schuld ist. Und dann bückt er sich wieder, schreibt in den
     Sand. Er prüft nicht, er überprüft nicht, er richtet nicht. Jeder soll sich selber prüfen, ohne überprüft zu werden. Jeder
     soll in sich gehen können, ohne Angst vor Entblößung haben zu müssen. Und alle gehen sie in sich und gehen, beschämt und erleichtert.
     Sie brauchen kein Urteil mehr zu fällen, es fällt kein Stein, auch nicht auf sie selbst.
    Dieser Jesus beschämt mich.
    Dieser Jesus erleichtert mich.
    |153| Er macht mich frei davon, andere zu verurteilen. Selten genug.
    Er lässt mich meinen Schatten annehmen. Selten genug.
    Mein Jesus malt in den Sand und haut nicht in Stein.
    Immer wieder verweht, verwischt, vergessen in mir, was er mir sagen will.
    In den Sand geschrieben, in den Wind geredet: Durchzugsgewissen. (Vergleiche Johannes 8)
     
    »Mein Jesus« – unbeachtet noch immer, wie ihn Schwester Jelisaweta in Solschenizyns »Krebsstation« beschreibt.
    Eine fleißige Pflegerin mit klugem Gesicht, die unter die Betten kriecht, um den Boden aufzuwischen, die Spucknäpfe ausleert
     und blitzend sauber putzt, die nicht schimpft, die alles, was einer Schwester zu schwer, unhandlich oder unsauber ist, herbei-
     und wieder fortträgt: Jelisaweta Anatoljewna,

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