Die Bibel für Eilige
wird:
das Geheimnis
Was ich in der Dunkelheit sage,
zu euch, sagt es am hellen Tag
und schreit, was euch ins Ohr geflüstert wurde
herab von den Dächern.
(So aufgeschrieben in der Aussendungsrede Matthäus 10.)
Am Anfang ein Stall; am Ende ein Galgen.
Aber es ist nicht zu Ende mit ihm. Diese Aussendungsrede versteht nur, wer sich anreden läßt. Ja, ihr seid gemeint! Kirchensteuern
zahlen ist ja nicht schlecht, aber das ist es nicht. Ihr seid es und seid es nicht, die den Ruf hören. Widersteht und widersprecht
und vertraut!
Vor
dem Imperativ steht bei Jesus immer ein Indikativ. Bei ihm jedenfalls steht vor jedem Sollen ein Sein: du bist geliebt. Also
liebe! Macht es wirklich einen Unterschied, ob es heißt »Du sollst, denn |149| du kannst«, oder ob es heißt »Du kannst, denn du sollst«? Alles, was er sagt, lässt sich auf
eine
Lebensmaxime reduzieren: Gott ist dir gut. Trotz allem. Gott liebt diese Welt. Trotz allem. Jesus ist der Gutmensch schlechthin,
der das Böse kennt und überwindet. Er lebt auf das Reich Gottes hin, in Frieden und Gerechtigkeit.
»Mein Jesus«, sage ich zuerst. Ich verhalte mich zu ihm. Ich habe meine Geschichte mit ihm, von seiner Geschichte hörend über
den garstigen Graben der Geschichte hinweg, übertönt von kirchlichen Überlieferungen und Konzilien, im Hall von Domen, über
den Scheiterhaufen der Ketzer, unter den Leuchtfeuern der Hoffnung, bezaubert von der Klarheit und Einfachheit seiner Worte.
Jesus nehme ich so wörtlich wie möglich. Ich nehme seine Worte beim Wort. Ich erprobe ihre Tragfähigkeit. Dabei versinke ich
und tauche wieder auf. Ich bleibe leer, und ich werde ganz erfüllt. Ich finde Jesus wunderbar naiv und bestürzend hellsichtig.
Er zeigt mir die Welt. Er kann so gut zeigen, was ich übersehe, nicht sehen kann, nicht sehen will.
Viele Gesichter hat er für mich, schon im Neuen Testament, dann übermalt und übertüncht von den Jahrhunderten. Viele Sichtweisen
finden sich auf seinem Bild, Interpretationen, auch Missverständnisse, gewollte, damit er sich besser einfüge. Ihn zu verstehen
hieße ja, die Welt nicht so lassen zu können, wie sie ist. In den Missverständnissen seiner ersten Anhänger entdecke ich meine
eigenen Missverständnisse. Mein Nicht-Verstehen-Wollen führt zu einem Nicht-Verstehen-Können.
Hinter den vielen Gesichtern wird für mich immer wieder das Antlitz dessen sichtbar, den er »Vater« nannte. Ich habe es nun
aufgegeben, alle Schichten zu unterscheiden, alle Bilder nebeneinander zu ordnen, alle Stile zu bewerten.
Theologie als Sezierwissenschaft hat mich immer mehr |150| verwirrt, je mehr sie freigelegt und geordnet hat. Ich versuche, das Verschiedene zusammen zu sehen. Ich prüfe, ob aus dem
Vielen nicht doch noch ein Ganzes wird. Immer wieder hebt sich mir anderes hervor. So begleitet Jesus meine Lebensgeschichte.
Natürlich ist er mir bisweilen auch ganz gleichgültig. Unentbehrlich ist er mir geworden beim Erkennen der »Zeichen der Zeit«,
der Zeichen meiner Zeit.
Scheitern können, ohne verzweifeln zu müssen! Das ist es, was mich an ihm besticht in einer Zeit, da die Schatten lang werden.
Ich akzeptiere, dass andere anderes an ihm hervorheben, auch weil sie die Welt – durch ihn! – anders sehen. In allem sehe
ich Annäherungsversuche. Irrtümer und Irrwege sind nicht ausgeschlossen, auch nicht in der Bibel. Die Unterscheidungen und
Unterschiede rechtfertigen indes die kirchlichen Spaltungen nicht, finde ich. Vielbedeutend ist er für mich in dem, was er
für mich ist und in dem, was er mir sagt. Vielbedeutend, aber nicht mehrdeutig. Jesus wird umstritten bleiben. Es wäre geradezu
schlimm um uns, wenn es ruhig um ihn würde. Aber streiten um ihn heißt streiten wie er. Sonst geht es nicht mehr um
ihn
.
Ob ich ihn vor mir habe, erkenne ich an einer Geste, die für mich seine Grundgeste ist: an der geöffneten Hand, an den ausgebreiteten
Armen mit den durchbohrten Händen, inmitten der Faust-Welt. Sein Lehren wird einladend, sein Drohen besänftigend, sein Erheben
segnend, sein Austeilen sättigend, seine Berührung heilend, sein Zupacken aufhebend, sein Empfangen schenkend.
»Leben in seiner ganzen Fülle« – das ist er für mich, das stellt er in seiner ganzen Vielfalt dar: der Lehrer des Matthäus,
der Wundertäter des Markus, der Sozialtherapeut des Lukas, der große Liebende des Johannes, der Hohepriester im Hebräerbrief,
der Versöhner bei Paulus, das
Weitere Kostenlose Bücher