Die Bibel für Eilige
seiner Sperrigkeit. Ernesto Cardenals Übertragung ist geradezu bestürzend aktuell.
Selig der Mensch, der den Parolen der Partei nicht folgt
und an ihren Versammlungen nicht teilnimmt,
der nicht mit Gangstern an einem Tisch sitzt
noch mit Generälen im Kriegsgericht.
Selig der Mensch, der seinem Bruder nicht nachspioniert
und seinen Schulkameraden nicht denunziert.
Selig der Mensch, der nicht liest, was die Börse berichtet,
und nicht zuhört, was der Werbefunk sagt,
der ihren Schlagworten misstraut.
Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an einer Quelle.
Arnold Stadler, ein Büchnerpreisträger, hat im Inselverlag eine Psalmübertragung herausgebracht und sie bereits in sechster
Auflage verkauft. Sie trägt den Titel: »Die Menschen lügen. Alle.«
Wunderbar der Mann,
der nicht aufs Volk hört,
den Leuten nicht nach dem Maul redet
und am Stammtisch bei denen herumsitzt,
die immer alles besser wissen.
Das ist ein Mann, der nichts als Freude hat
am Herrn, der ihm den Weg weist,
Tag und Nacht.
Er wird ein Baum sein,
direkt am Wasser.
Er wird zur rechten Zeit seine Früchte
tragen.
|143| Seine Blätter werden nicht welken.
Wo er steht, steht’s gut um ihn.
Dagegen die Vergeblichen:
Sie sind nichts als Spreu,
vom Wind verweht.
Daher werden die Abwegigen nicht stehen
in der Reihe der Aufrechten, beim Gerichtstermin,
von wegen jene, die ganz abgekommen sind,
wenn Richttag ist.
Denn den Weg der Aufrechten richtet
und weist der Herr,
der Weg der Verirrten hingegen
führt von selbst zum Abgrund. 3
Stadler hat Umschreibungen für die sperrigen Worte »Gott lose « und »Sünder« gefunden. Er nennt sie die Vergeblichen, die Abwegigen, die Verirrten. Seine Übertragung kommt dem Geist des
Psalms sehr nahe und hat nicht den anbiedernden Ton, den viele Gebrauchslyrik im protestantischen Raum der letzten 30 Jahre
anwehte.
»Nachtherbergen für die Wegwunden« nannte Nelly Sachs die Psalmen. Es lohnt sich, die Herbergen aufzusuchen, auch heute.
Epilog nach dem 11. September 2001
Die Psalmen sind voll von archaischem Denken. Als ich im Sommer 2001 den ganzen Psalter gelesen hatte, war ich einerseits
erschüttert und erschlagen von der Expressivität und der poetischen Kraft dieses Buches. Er spielt all das durch, was die
Seele eines Menschen durchmacht, der seine Seele nicht getötet hat. Und zugleich durchweht diese Psalmen ein Schema von Gerechten
und Ungerechten, Frommen und Sündern, Friedlichen und Lügnern, Gottlosen und |144| Gerechten. Der Rachewunsch gegenüber den Feinden tritt unverblümt, unvermittelt und unzensiert hervor, meistens so, dass die
eigenen Feinde die Feinde Gottes sind und Gott sie möglichst vernichten möge, sodass dann die eigenen Vernichtungswünsche,
mit höchster Autorität versehen, auch selber im Namen Gottes ausgeführt werden können. Ein archaisches Denken, über das inzwischen
– nach etwa 3000 Jahren – ein bisschen zivilisatorisch-christlicher Firnis gezogen ist. Nicht mehr.
Nach dem 11. September 2001 wird deutlich, wie stark dieses Gut-Böse-Schema die Welt durch eine fanatische Terrortat wieder
auf dieses Schema gebracht hat, dem auch der mächtigste Mann der Welt mit seinem texanischen Welthorizont und seiner bigotten
Frömmigkeit frönt. »Ausräuchern« will er die Feinde, einen »Kreuzzug« führen, die gerechte Sache zu Ende führen. Schließlich
geht es gegen die »Achse des Bösen«.
Einen beträchtlichen Teil der Psalmen kann der texanische Jäger auf seine Mühlen schütten:
Du bringst die Lügner um;
dem HERRN sind ein Greuel die Blutgierigen und
Falschen.
(Psalm 5,7)
Es sollen alle meine Feinde zuschanden werden und sehr
erschrecken;
sie sollen umkehren und zuschanden werden plötzlich.
(Psalm 6,11)
Doch sich selber hat er tödliche Waffen gerüstet
und feurige Pfeile bereitet.
Siehe, er hat Böses im Sinn,
mit Unrecht ist er schwanger und wird Lüge gebären.
|145| Er hat eine Grube gegraben und ausgehöhlt –
und ist in die Grube gefallen, die er gemacht hat.
Sein Unrecht wird auf seinen Kopf kommen
und sein Frevel auf seinen Scheitel fallen.
(Psalm 7,14ff.)
Wer denkt da nicht unmittelbar an Kandahar und Osama Bin Laden?
HERR, führe meine Sache wider meine Widersacher,
bekämpfe, die mich bekämpfen!
Unversehens soll ihn Unheil überfallen;
sein Netz, das er gestellt hat, fange ihn selber,
zum eigenen Unheil stürze er hinein.
(Psalm 35,1.8)
Sein Mund ist
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