Die Bibliothek der Schatten Roman
richtig an.
Er setzte sich auf einen Stein in die Sonne und zog ein Buch aus der Tasche. Es stammte aus dem Stapel Bücher, den Iversen ihm mitgegeben hatte. Die Göttliche Komödie , angeblich eins von Lucas Lieblingsbüchern. Obwohl es sich um eine kleine, kompakte Reiseausgabe handelte, war der Einband besonders kunstvoll gestaltet. Das Leder war tiefrot und der Titel in schwarzen Lettern wie eingemeißelt.
Jon schlug irgendeine Stelle im Buch auf und begann zu lesen. Es war merkwürdig, zwischen all den Gräbern zu sitzen und laut zu lesen, aber er fühlte sich unendlich geborgen zwischen den Bäumen, Büschen und schweren Steinen. Hier musste er nicht befürchten, dass ihn jemand hörte oder beobachtete. Er war ganz allein und konnte sich vollkommen aufs Lesen konzentrieren.
Er wusste inzwischen ungefähr, wie weit er gehen konnte, aber es brauchte etwas Zeit, bis er sich in die Versform eingelesen hatte und das Gelesene emotional wiedergeben konnte. Nach drei, vier Seiten hatte er endlich den Rhythmus und die nötige Konzentration gefunden, die dem Papier die glasige Durchsichtigkeit verlieh, hinter der die Schatten wie Gestalten im Morgennebel auftauchten. Er konzentrierte sich auf sie, bis sie scharf wie Scherenschnitte waren.
Iversen und Katherina waren vermutlich in diesem Augenblick damit beschäftigt, jede mögliche Unterstützung zusammenzutrommeln, die sie kriegen konnten. Eine Arbeit, bei der Jon nur im Wege war. Da passte es gut, wenn er nach draußen ging. So störte er nicht und hatte ein wenig Zeit für sich. Trotzdem war es frustrierend, nicht helfen zu können.
Nach ein paar weiteren Seiten verstärkte Jon seine Fähigkeiten,
und die Glasplatte, hinter der die Bilder sich bewegten, zersplitterte. Wieder hatte er das Gefühl von Macht, das er auch schon bei der Aktivierung gespürt hatte. Das Lesen lief jetzt automatisch, er konnte sich ganz auf die Ausgestaltung der Szenen konzentrieren. Nach und nach intensivierte er die Personenzeichnung und die trostlose Umgebung, in der die Charaktere sich befanden. Obwohl er keinen Widerstand spürte, hielt er sich von sich aus etwas zurück. Wie ein Filmcutter versuchte er statt der ruckartigen Sprünge gleitende Übergänge zwischen den Szenen zu schaffen.
Er wusste nicht, wie lange er gelesen hatte, aber als er das Buch weglegte, saß er im Schatten. Seine Kehle war trocken, und seine Finger, die das Buch gehalten hatten, waren eiskalt und fast gefühllos. Er hielt sie vor den Mund und wärmte sie mit seinem Atem. Um ihn herum lag alles im Schatten, er konnte kaum noch Details erkennen, aber als sein Blick zu Lucas Grab wanderte, hielt er die Luft an.
Die Gitterstreben, die zuvor gerade nach oben gezeigt hatten, bildeten jetzt ein Muster aus Stromwirbeln und Wellenfiguren. Hätte man sich das Grab vorher nicht angesehen, wäre einem wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches aufgefallen, außer mit welchem beeindruckenden handwerklichen Geschick die geschwungenen Eisenstangen gearbeitet waren.
Jon sah sich um, aber er war noch immer allein. Nur die Baumkronen bewegten sich im Wind.
Als er aufstand, spürte er eine überwältigende Erschöpfung, trotzdem ließ er sich nicht davon abhalten, das Eisengitter aus der Nähe zu betrachten. Das Metall sah aus, als wäre es schon immer so geschmiedet gewesen.
Er bückte sich und legte die Fingerspitzen auf die Eisenstreben.
Sie waren eiskalt.
FÜNFUNDZWANZIG
O bgleich sich mehr als 30 Personen im Legasthenie-Zentrum versammelt hatten, war es so still, dass Katherina das Gefühl hatte, alle müssten ihr Herz klopfen hören. Sie hatte gerade über ihre Entdeckungen in den Remer-Dokumenten und über Kortmanns brüske Reaktion berichtet. Jetzt wartete sie auf das Urteil der Empfänger. Es waren nur wenige Freunde Kortmanns anwesend, aber Katherinas Glaubwürdigkeit hing davon ab, ob sie ihr die Theorie über die Schattenorganisation abkauften oder nicht. Sie sprach nur selten so lange am Stück und ohne Unterbrechung und musste mehrmals zwischendurch einen Schluck Wasser trinken, um sich die trockene Kehle zu befeuchten.
Clara, die die Empfänger wie immer effektiv zusammengetrommelt hatte, räusperte sich und ergriff als Erste das Wort.
»Wie sicher seid ihr euch, dass Remer ein Sender ist?«, fragte sie und sah Katherina eindringlich an.
»Für uns gibt es da keinen Zweifel«, antwortete sie.
»Aber getestet habt ihr ihn nicht?«
»Nein.«
Clara nickte. Einige der Anwesenden steckten flüsternd die
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