Die Bibliothek der Schatten Roman
Gewalt nicht zurückschrecken, schließlich hatte er bereits getötet.
»Nur dass es ihm dieses Mal offensichtlich nicht gereicht hat, Luca Schaden zuzufügen«, fuhr Jon verbittert fort. »Er musste sterben.«
»Könnte es ein Unfall gewesen sein?«, spekulierte Katherina. »Vielleicht wollte er Luca nur einen Schreck einjagen, konnte dann aber nicht rechtzeitig aufhören?«
»Das kannst du besser beantworten als ich«, sagte Jon. »Könnt ihr rein zufällig Leute umbringen?«
Katherina starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Der Teer glänzte metallisch im Licht der Sonne. Ihr schlechtes Gewissen schnürte ihr den Hals zu, und der Sicherheitsgurt schien sie zu erdrücken. Mit einem Mal kam ihr der Innenraum des Wagens sehr klein vor. Dieses Mal konnte sie nicht verschwinden oder ausweichen, wie sie es zuvor so oft getan hatte.
»Könnt ihr das?«, wiederholte Jon und riss Katherina aus ihren Gedanken.
»Ja«, antwortete sie widerwillig. »Ich habe selbst den Tod eines Menschen verschuldet.« Sie bemerkte, dass Jon sie von der Seite ansah, während sie selbst weiter nach vorn starrte und dem Drang widerstand, ihre Narbe am Kinn zu kratzen.
»Sie war meine Dänischlehrerin«, begann sie. »Meine
Lieblingslehrerin, sie hieß Grethe. Ich erinnere mich nicht mehr, wie alt sie war. So etwas ist einem als Kind nicht so wichtig, da gibt es ohnehin nur zwei Altersklassen für Erwachsene: erwachsen oder steinalt. Ich selbst war damals zwölf Jahre alt. Meine Leseprobleme wurden damals wirklich massiv, so dass ich häufig getrennt von den anderen in der Förderklasse hockte. Nur an diesem Tag nicht.«
Sie hielt einen Moment inne und rutschte hin und her, um eine bequemere Position zu finden.
»Die Klasse hatte Grethe bedrängt, uns eine Geschichte vorzulesen. Ich war eine der Schlechtesten und liebte es, wenn mir jemand vorlas, denn so vergaß ich meine eigenen Probleme. Wenn Grethe las, waren wir alle gleich. An diesem Tag hatte sie ein neues Buch dabei. Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. Eines der anderen Mädchen hatte einen Geburtstagskuchen mitgebracht - du weißt schon, so einen giftgrünen mit dicker brauner Glasur, die am Gaumen kleben bleibt. Es verging einige Zeit damit, den Kuchen aufzuteilen, doch als alle ein Stück bekommen hatten, holte Grethe ihre Brille aus der alten Ledertasche und setzte sie auf. Wenn sie diese Brille auf der Nase hatte, wurden alle in der Klasse mucksmäuschenstill. Sie begann zu lesen. Zuvor hatten wir Michel aus Lönneberga und die Kinder aus Bullerbü gehört und ähnliche Geschichten von Astrid Lindgren, so dass uns der traurige Beginn der Brüder Löwenherz vollkommen überraschte. Ich war gleich von der Geschichte gefangen und von der ersten Seite an so fasziniert, dass ich ganz vergaß, meinen Kuchen zu essen.«
Katherina schwieg, und Jon sah sie einen Moment lang an, als wollte er sie auffordern weiterzureden.
»Grethe konnte unheimlich gut vorlesen. Ich habe mich seither oft gefragt, ob auch sie die Fähigkeiten hatte oder ob sie einfach begabt war. Wenn sie las, waren wir von ihrer Stimme und dem Rhythmus des Gelesenen hypnotisiert. Ich spürte
damals, wie außergewöhnlich dieses Buch war, ich wünschte mir, dass die Lesestunde niemals ein Ende nähme, und wollte die Geschichte bis zum Schluss hören, ohne Pausen oder Unterbrechungen. Grethe hatte eine so angenehme Stimme, warm und geduldig, wie die einer fürsorglichen Großmutter. Ohne zu wissen, was ich tat, klammerte ich mich an Grethes Vortrag und zog sie förmlich hinter mir her durch das Buch. Die starken Gefühle zwischen den Brüdern zu Beginn des Buches berührten mich tief, und ich muss sie unbewusst verstärkt und an Grethe weitergegeben haben.«
Katherina legte die Hände in den Schoß.
»Die Pausenglocke klingelte, aber ich wollte nicht, dass die Geschichte abbrach, und hielt Grethe fest. Ich zwang sie weiterzulesen. Die anderen in der Klasse sahen sich verwirrt an, so etwas hatten sie noch nicht erlebt, aber alle waren glücklich, dass es weiterging, schließlich befanden wir uns gerade an der Stelle, an der Jonathan seinen Bruder wiedertrifft. Grethe begann zu zittern. Ihre Stimme war unverändert, aber ihre Hände bebten, und in ihren Augen blitzte Angst auf. Ich habe das alles nicht wirklich wahrgenommen. Ich war einfach froh, dass die Geschichte weiterging, und nahm sie gierig auf. Hemmungslos drängte ich Grethe mit meinem Wunsch vorwärts, die Geschichte bis zum Ende zu
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