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Die Bibliothek der Schatten Roman

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Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
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hören.« Katherina seufzte tief. »Erst als eines der Mädchen in der Klasse aufschrie, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Aus Grethes Nase und Ohren sickerte Blut und rann über ihre Lippen, ihr Kinn und ihren Hals. Mit einem Mal war der Bann gebrochen, und ich hielt mir entsetzt die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Grethes Stimme brach ab, sie sackte auf dem Boden zusammen, und ihre Brille rutschte über das Linoleum. Alle sprangen auf, um ihr beizustehen oder Hilfe zu holen, und einer der Jungen, dessen Vater Feuerwehrmann war, legte Grethe in die stabile Seitenlage. Nur ich blieb auf meinem Platz sitzen. Ich konnte meinen Blick nicht von dem leblosen Körper
am Boden losreißen, von Grethes gebrochenem Blick, der sich auf das Linoleum geheftet hatte, und ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie tot war. Ich wusste, ich hatte sie umgebracht.«
    Katherina sah aus dem Seitenfenster, um Jon nicht ansehen zu müssen.
    »Du warst dir aber nicht im Klaren darüber, was du getan hast«, sagte er. »Woher hättest du es wissen sollen?«
    Doch ihre Schuldgefühle meldeten sich jetzt wieder mit voller Wucht. Hatte sie es nicht sehr wohl gewusst? Schließlich hatte sich die Episode zugetragen, nachdem sie Luca getroffen hatte, und der hatte sie bereits bei ihrer ersten Begegnung davor gewarnt, ihre Fähigkeit zu intensiv zu nutzen. Und trotz ihrer Faszination für die Geschichte hatte sie die Warnsignale durchaus wahrgenommen, Grethes Zittern und die Nervosität der anderen Kinder. Aber sie hatte weitergemacht, bis es zu spät war.
    »Man erzählte uns hinterher, sie habe eine Gehirnblutung gehabt«, erzählte Katherina. »In der Biologiestunde haben sie uns gezeigt, wie so etwas entsteht. Wir haben an verschiedenen Gehirnmodellen erklärt bekommen, wie Blutdruck, Venen und Durchblutung zusammenhängen.«
    »Du hast nie jemand davon erzählt?«
    Katherina schüttelte den Kopf.
    »Erst viel später habe ich mit Luca, Iversen und ein paar anderen in der Gesellschaft darüber gesprochen. Wer sonst hätte mich verstehen sollen?«
    »Und was ist mit deinen Eltern?«
    »Denen machte ich schon mehr als genug zu schaffen mit meiner Legasthenie und den Stimmen, die ich angeblich hörte.«
    Jon fuhr von der Autobahn ab und bog auf eine Landstraße ein, die sie durch eine hügelige Agrarlandschaft mit vereinzelten Dörfern und Wäldern führte. Nach einer Weile verlangsamte
Jon das Tempo. Er zog ein Blatt Papier zwischen den Sitzen hervor und warf einen Blick darauf.
    »Irgendwo muss hier links eine Abzweigung kommen«, sagte er und beugte sich vor. Ein paar hundert Meter weiter hielt er an. Auf der anderen Straßenseite zweigte ein schlammiger Feldweg ab, der weiter hinten in einer Baumgruppe verschwand. Neben der Straße stand ein Schild mit der Nummer 59.
    Sie sahen sich an.
    »Bereit?«, fragte Jon.
    »Bereit«, bestätigte Katherina.
    Jon bog in den Weg ein. Die Unebenheiten und Schlaglöcher zwangen ihn, langsam zu fahren, doch trotzdem wurden sie auf ihren Sitzen durchgeschüttelt.
    Nach 20 Metern tauchte ein Schild am Wegesrand auf.
    »Zutritt für Unbefugte verboten!«, las Jon.
    Zehn Meter dahinter folgten die nächsten Schilder.
    » Privatgrundstück und Eindringlinge werden angezeigt «, las Jon vor. »Nicht sehr gastfreundlich, oder?«
    »Er weiß, dass wir kommen«, konstatierte Katherina ruhig.
    Jon trat auf die Bremse und sah sich um.
    »Wie meinst du das? Hast du ihn gesehen?«
    »Nein, aber er hat uns gehört.«
    »Bist du sicher? Man sieht doch noch nicht einmal den Hof.«
    »Diese Schilder …« Katherina deutete nach hinten. »Die stehen da nicht nur, um Leute abzuhalten.«
    Jon sah sie verwundert an.
    »Das ist eine Art Alarmsystem«, erklärte sie. »Er hat dich lesen hören.«
    Jon starrte sie ein paar Sekunden lang ungläubig an, bis er verstand.
    »Jetzt kapier ich«, sagte er und machte ein betretenes Gesicht. »Entschuldige.«

    »Ist schon okay«, beruhigte ihn Katherina. »So kurze Texte können ihm nur verraten, dass wir auf dem Weg sind, mehr nicht.«
    Jon fuhr weiter durch ein kleines Wäldchen. Wieder folgten Schilder am Wegrand und an den Baumstämmen. Obgleich Katherina spürte, dass Jon sich anstrengte, nicht zu lesen, empfing sie die Aufschriften. Kein Zutritt , Hier wache ich , Privatbesitz .
    Nach weiteren 100 Metern kamen sie zu einer großen Lichtung, auf der ein weißer dreiflügeliger Hof mit Reetdach lag. Die Farbe blätterte an vielen Stellen von der Mauer ab, und

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