Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Gebrandmarkten, die Cendrars interessierten. Gerade in Brasilien, wo den Sklaven das Schreiben verboten war und die erste Drukkerpresse erst 1818 in Rio de Janeiro eingerichtet wurde, da ein Gesetz die Verbreitung heimischer Bücher lange verhinderte, existierte eine einmalige Erzählkultur, und es gab wahre Schätze der Poesie zu entdecken, die mündlich, nur gelegentlich in hand schriftlichen Aufzeichnungen, überliefert wurden. Auf diesem Weg wurde einiges über die Zeit gerettet, wie die satirischen Gedichte und Liebeslieder von Gregório Matos e Guerra, einem Mulatten und lasterhaften Trunkenbold aus dem Hafenviertel von Pernambuco, der zwischen 1633 und 1696 gelebt hatte. Seine Lieder, die die schwarze Venus preisen, wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts gedruckt. Wie viele Geschichten und Gedichte für immer verlorengingen, nur weil sie einfach vergessen wurden, daran wage ich nicht zu denken. Sie füllen in der Bibliothek der verlorenen Bücher endlose, nur schwer zugängliche Säle und geheime Kammern, deren genaue Lage nur dem Obersten Bibliothekar bekannt ist.
Was aber geschah mit der »Anthologie nègre«, die sich dem Verlust einer ganzen Literatur entgegenstellte? 1940 lag die wertvolle Sammlung druckreif vor und wartete nur noch auf ihre Veröffentlichung. Dann aber marschierte die deutsche Wehrmacht in Frankreich ein, Cendrars musste fliehen und das Manuskript in seinem Haus bei Paris zurücklassen. Das Haus wurde geplündert, und die unglaublichsten Geschichten, Erinnerungen, Überlieferungen aus allen Ecken und Enden der Welt verschwanden aus dem Gedächtnis der Menschen.
Einige vorzügliche Gründe für die Vernichtung von Manuskripten
E in Künstler, der sein Lebenswerk vernichtet, ein Autor, der sein Manuskript ins Feuer wirft – allzu gern stellen wir sie uns als vollkommen wahnsinnig vor, als gescheiterte Existenzen mit einem tragischen Hang zur Selbstzerstörung. In einigen Fällen trifft dies gewiss zu, doch gibt es für die Beseitigung von Manuskripten oft auch sehr rationale Gründe.
Thomas Mann verbrannte seine Tagebücher nicht in geistiger Umnachtung, sondern in Sorge um seine Lebensgeheimnisse. Kafka hielt seine Werke für zu privat, um sie der Öffentlichkeit zu offenbaren. Natürlich gibt es auch andere Motive, wie fehlende Anerkennung, Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit, die Sehnsucht nach einem Neuanfang, knausrige Verleger, die sich weigern, satte Vorschüsse zu zahlen und das literarische Unternehmen als Weg ins Armenhaus erscheinen lassen.
Einige, wenn nicht sogar die meisten dieser Werke werden nicht einmal im Katalog der Bibliothek der verlorenen Bücher erwähnt, da man weder ihre Titel noch ihre Autoren kennt und von ihrer Existenz nie etwas erfahren wird. Zuweilen gelingt es noch, den Titel eines Buches zu bewahren, auch wenn über Inhalt und Autor nichts bekannt ist. In wenigen Fällen weiß man etwas über den Autor, nur sehr wenig über sein zerstörtes Werk, aber man kennt zumindest den ungefähren Grund, warum er es zerstörte.
Der französische Dandy Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly verbrannte zum Beispiel 1824 einen namenlosen Gedichtband aus Verzweiflung darüber, dass er keinen Verlag finden konnte. Wie unzählige junge Literaten vor und nach ihm hatte er nach einem ersten kleinen dichterischen Erfolg vom Künstlerruhm geträumt. Und wie unzählige, durch solche Scheinerfolge verdorbene Jünglinge hatte er erleben müssen, wie sein Traum Schiffbruch erlitt. Widerwillig gab er dem Drängen seiner Familie nach und nahm in Caen ein Jurastudium auf, das ihn auf den Pfad der bürgerlichen Tugend zurückgeführt hätte, wäre er nicht dem etwas verbrauchten und abgetakelten englischen Salonlöwen George Brummel über den Weg gelaufen, der vor seinen Gläubigern nach Frankreich geflohen war.
Barbey wurde von Beau Brummel, dem berühmtesten aller Dandys, zum Dandyismus bekehrt, einer Lebensweise, in der Stil alles ist. Das Tagwerk richtet sich nach gesellschaftlichen Anlässen, die Morgentoilette wird zum Ritual, das Ankleiden zur religiösen Angelegenheit, Leben und Meinungen orientieren sich an Mode und Garderobe. Verführung wird zur Kunstform, Ehebruch zur sportlichen Ertüchtigung, Originalität ist Pflicht.
Fast zwangsläufig führte das sorgfältig inszenierte Leben eines Dandys zurück zur Scheinwelt der Literatur. Barbey d’Aurevilly wurde bald zum gerngesehenen Gast in den Pariser Salons, veröffentlichte
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