Die Bibliothek der verlorenen Bücher
seine Manuskripte nicht wegen irgendwelcher Gemütsschwankungen, sondern aus Angst vor der Staatsgewalt, mit der er schon in jungen Jahren unschöne Erfahrungen gemacht hatte. Nach seiner Heirat mit Anna Snitkina floh er am 14. April 1867 vor seinen hohen Schulden aus Russland und reiste mehrere Jahre durch Deutschland, die Schweiz und Italien – ein strapaziöses Unternehmen, das nicht unbedingt zur Verbesserung der desolaten Finanzlage beitrug. Während seiner Reise schrieb und veröffentlichte er den Roman »Der Idiot«, entwarf einen weiteren – »Die Dämonen« – und konzipierte einen fünfbändigen Zyklus mit dem Titel »Das Leben eines großen Sünders«. Vor seiner Rückkehr nach Russland im Jahr 1871 verbrannte er einen Großteil seiner Manuskripte, da er Schwierigkeiten mit den Zollbeamten befürchtete.
Ein weitaus rätselhafterer Fall einer Manuskriptvernichtung handelt von dem Versuch, die tatsächliche Autorschaft gewisser Werke zu verschleiern. Hier ist also nicht das Werk, sondern die Identität des Autors oder der Autoren verloren. Das Motiv ist durchaus verständlich: Wenn man vermeiden will, dass die schreckliche Wahrheit ans Licht kommt, und die Offenbarung scheut, dass ein anderer das Buch geschrieben hat, für das man von aller Welt gelobt wurde, dann sollte man die Spuren mit Sorgfalt beseitigen.
Dies war möglicherweise die scharfsinnige Schlussfolgerung von Maurice Sandoz, einem überaus vielseitig gebildeten Wissenschaftler, Dichter, Musiker, Kunstsammler, Mäzen und Weltreisenden, der 1892 in Basel geboren wurde und wegen seiner musischen Neigung darauf verzichtete, eine Führungsrolle im mächtigen Konzern seiner Familie zu übernehmen. Zu dem umfangreichen, unter seinem Namen veröffentlichten literarischen Werk ist nur ein einziges Manuskript aus seiner Feder erhalten. Diese merkwürdige Tatsache veranlasste einige Neider zu der düsteren Vermutung, Sandoz habe all die Papiere verbrannt, um zu verheimlichen, dass nicht er selbst die erfolgreichen Bücher geschrieben hatte, sondern lediglich weniger betuchte Zeilenschinder dafür bezahlt worden waren, seine Konzepte auszuarbeiten. Ist Maurice Sandoz also ein Autor ohne Werk?
Man mag kaum glauben, dass verschiedene Ghostwriter für die phantastischen, an Edgar Allan Poe und E. T. A. Hoffmann erinnernden Erzählungen des Monsieur Sandoz verantwortlich sein sollen. Allein die Kurzgeschichte »Der schiefe Fels« hat einige Qualitäten des »Zauberbergs«. Mit unvergleichlich leichter Hand wird hier eine Liebe mit tödlichem Ausgang in einem Schweizer Lungensanatorium beschrieben. Diese und viele weitere, wunderbar morbide und kauzige Erzählungen haben einen solch eigenen und eigentümlichen Charme, dass das Gerücht um ihre »wahre« Herkunft hier für unsinnig erklärt werden soll. Es sei denn, jemand äußerte die Vermutung, Thomas Mann sei Maurice Sandoz’ Ghostwriter gewesen.
Vom leichtsinnigen Umgang mit Manuskripten
N eben den zahllosen Manuskripten, die durch die Hand ihrer Autoren mutwillig zerstört wurden, und jenen, die durch Missgeschicke, unglückliche Zufälle, Diebstahl, Naturkatastrophen und Kriege verlorengingen, gibt es auch tragische Verluste, die nur durch Leichtsinn und Nachlässigkeit zu erklären sind. Denken wir beispielsweise an den letzten Teil von Mary Shelleys »Lodore«, der in den Papierbergen einer Londoner Verlagsbuchhandlung verschwand.
Es gibt eine interessante Erzählung, die einen solchen Vorfall schildert. In »Das Buch, das verschwand« von Ezequiel Martínez Estrada schreibt ein Verleger das Vorwort zu einer zweitausend Seiten starken Autobiographie einer jungen Frau namens Marta Riquelme. Bald stellt sich heraus, dass Martas kaum lesbares und lose zusammengebündeltes Manuskript unauffindbar ist. Es ist, wie Mary Shelleys »Lodore«, in den Manuskriptstapeln des Verlags abhanden gekommen. Ohne rechte Überzeugung versucht der Verleger nun, durch erfundene Zitate und freie Rekonstruktionen den Anschein zu erwecken, dass es sich bei den verlorenen Memoiren um ein Meisterwerk handle. »Und das, was jetzt folgt, ist einfach wunderbar«, lautet der letzte Satz seiner Einleitung. Nur folgt leider nichts. In dieser Geschichte ist wie in ähnlichen realen Fällen Zerstreutheit, Nachlässigkeit und Schlamperei im Spiel. Es ist durchaus denkbar, dass der unachtsame Umgang mit Manuskripten mehr Schaden angerichtet hat als der Brand der Bibliothek von Alexandria.
Das
Weitere Kostenlose Bücher