Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Lebenswerk von T. E. Lawrence, das sich aus purem Leichtsinn beinahe in Luft aufgelöst hätte, soll hier als mahnendes Beispiel dienen – auch wenn dem katastrophalen Verlust ein unverdrossener Neubeginn folgte.
Lawrence hatte zwischen 1911 und 1914 weite Gebiete des Orients als Archäologe bereist und an den Ufern des Euphrat Ausgrabungen geleitet. Im Ersten Weltkrieg ging er als britischer Agent erneut nach Arabien und schloss sich dem Aufstand gegen die türkischen Besatzer an. Seine maßgebliche Rolle im großen Freiheitskampf der arabischen Stämme machte ihn berühmt, und sein 1926 nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen endlich erschienener Bericht wurde ein Welterfolg. »The Seven Pillars of Wisdom« (»Die sieben Säulen der Weisheit«) war jedoch keineswegs identisch mit der ursprünglichen Fassung.
Lawrence hatte die Bücher 2 bis 7 und 10 seiner umfangreichen Chronik zwischen Februar und Juni
1919 geschrieben. Da er kaum Erfahrungen als Autor besaß, bat er den feinsinnigen englischen Romancier E. M. Forster um Rat, der seinen Stil ein wenig zu »körnig« nannte. Doch George Bernard Shaw ermunterte ihn, seine abenteuerliche Erzählung zu vervollständigen und zu veröffentlichen. So schrieb Lawrence die Einleitung im Juli, auf einer Reise von Paris nach Kairo, das erste Buch verfasste er nach seiner Rückkehr in England. Sein umfangreiches Manuskript schleppte er stets mit sich herum, um es bei jeder Gelegenheit zu bearbeiten. Weihnachten 1919 wartete Lawrence auf dem Bahnhof von Reading auf einen Anschlusszug. Die Mappe mit seinen Aufzeichnungen lag griffbereit neben ihm, während er in der Bahnhofshalle seinen Tee trank und von der Wüste träumte. Der letzte Aufruf des Schaffners riss ihn aus seinen Gedanken, und er musste rennen, um den Zug noch zu erreichen. Als er sich in seinem Abteil niederließ, blickte er durch das Fenster und sah keinen Winternebel, sondern gleißendes Sonnenlicht, das den heißen Sand in eine schimmernde Fata Morgana verwandelte. Er griff nach seiner Mappe, um einen wunderbaren Einfall zu notieren. Nun erst bemerkte er, dass er das Manuskript nicht bei sich hatte. Er hatte es im Bahnhof liegenlassen, und es war unmöglich, noch einmal umzukehren. Ihm blieben lediglich einige handschriftliche Entwürfe zu Buch 9 und 10 sowie die Einleitung. Die Notizbücher aus den Jahren 1916 bis 1919, die das Material enthielten, auf dem die ausgearbeiteten Texte beruhten, waren nach der Fertigstellung der einzelnen Kapitel voreilig vernichtet worden.
Anfang 1920 bekam Lawrence ein stattliches Stipendium in Oxford, unter der Bedingung, dass sein Buch die Geschichte der arabischen Revolution sachlich darstellen sollte, und er begann »Die sieben Säulen der Weisheit« aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren – eine Arbeit, die er nach nur drei Monaten abschloss. Er wohnte am All Souls College, wo er allerlei illustre Gäste empfing: Ölmagnaten, Dichter, Bildhauer, Politiker kamen, um ihn zur Situation und Zukunft des Mittleren Ostens zu befragen. Lawrence fühlte sich in der Rolle des Orakels unwohl und versuchte, sich so gut wie möglich von der Legende zu distanzieren, die man aus seinem Ruf und Namen konstruierte. Von unablässigem Tatendrang beseelt, wollte er einen kleinen Beitrag zur Verschönerung des Collegelebens leisten und legte im verwilderten Hof von All Souls eine Pilzzucht an. Als dieses Projekt scheiterte, plante er, Wild anzusiedeln. Nachts, bis zum Morgengrauen schrieb er an den »Sieben Säulen«. Der neue Text wurde zur Grundlage einer zweiten, sorgfältig überarbeiteten Fassung, die Lawrence 1922 in einigen wenigen Exemplaren auf eigene Kosten drucken ließ, um das Risiko eines erneuten Verlustes zu mindern. Das handschriftliche Original von 1920 verbrannte er. Die erste reguläre Buchausgabe von 1926 enthielt zahlreiche weitere Überarbeitungen und Kürzungen, eine von Lawrence selbst erstellte Kurzfassung erschien
1927 unter dem Titel »Aufstand in der Wüste«.
T. E. Lawrence starb 1935 an den Folgen eines Motorradunfalls. Der Dichter W. H. Auden bezeichnete sein Leben als Allegorie auf die Verwandlung »des wahrhaftig schwachen Mannes in den wahrhaftig starken Mann«. Seinen besonderen Leichtsinn im Umgang mit Manuskripten kommentierte er nicht.
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