Die Bibliothek der verlorenen Bücher
tauchte überall auf: in München, Paris, New York, in Brasilien, Russland, China. Drehte Filme in Hollywood. Kämpfte in der Fremdenlegion. Ging im Dschungel auf Jagd nach Riesenschlangen. Prügelte sich in den Hafenkneipen von Rotterdam.
Wer aber kennt Frédéric Louis Sauser? Den Sohn eines Berner Oberländers und einer Zürcherin, geboren am 1. September 1887 in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz, der im Alter von 16 Jahren von zu Hause weglief und in den Zug nach Basel stieg, den er, wie es scheint, nie wieder verlassen hat? Der Mann, der 1907 ein Medizinstudium an der Universität Bern begann, hieß vielleicht noch Frédéric Sauser. Doch sein Körper und Geist gehörten bereits Blaise Cendrars, so als hätte er beiläufig mit dem Teufel paktiert. Seine Seele gegen einen Geschichtenbazar getauscht. Cendrars, der Abenteurer, der Phantast, der unermüdliche Reisende, der Laufbursche eines Diamantenhändlers aus St. Petersburg, Augenzeuge unerhörter, schrecklicher Ereignisse. Die Transsibirische Eisenbahn brachte ihn bis zu den Ausläufern und Verwüstungen des Russisch-Japanischen Krieges. Expeditionen zu den Diamantenminen des Fernen Ostens führten über Kurgan, Omsk, Krasnojarsk, die Mandschurei, China. Zurück in Moskau und St. Petersburg, erlebte er den blutigen Ausbruch der Oktoberrevolution.
Wer hätte von diesem Mann den Abschluss eines Studiums, ein bürgerliches Leben als Arzt oder Anwalt erwartet? Er war ein Schriftsteller, der schreiben musste, was er erlebt hatte, und der leben musste, was er schrieb. Die Bilder in seinem Kopf trieben ihn über unzählige Seiten, durch ungezählte Bücher, die Kontinente überspringen, die Zeit und Raum in einen Rausch überhitzter Wahrnehmung verwandeln.
Vieles blieb vage und ungewiss, taumelnd zwischen Erinnerung und Vision, Leben und Traum. Cendrars’ Biographie ist ein Kaleidoskop greller Farben und unergründlicher Schatten. Sein Werk ist wie eine Bibliothek wirklich existierender, geschriebener und veröffentlichter Bände mit unwirklichen Lücken in den Regalen, so als hätte jemand die Bücher ausgeliehen und nicht wieder zurückgebracht.
In der ungenauen Liste der 33 Bücher, in der Blaise Cendrars im Lauf von 33 Jahren die Titel seiner geschriebenen, ungeschriebenen, veröffentlichten, unveröffentlichten, vollendeten und ewig unvollendeten Werke aufzählte, findet sich auch der fünfbändige Roman »La Vie et la mort du Soldat Inconnu« (»Leben und Tod des unbekannten Soldaten«). Cendrars meinte in einem Radio-Interview, er habe das Manuskript zum großen Entsetzen seines Verlegers verbrannt. Vielleicht hat er es aber gar nicht geschrieben oder nie zu Ende geschrieben, und es war nur eine gute Ausrede, um den bestellten Text nicht abliefern zu müssen. Allerdings erwähnte auch seine Tochter Miriam den Roman und gab an, ihr Vater habe einige Kapitel fertiggestellt und das Projekt dann aufgegeben.
Cendrars’ Liste enthält noch ein viel umfangreicheres, zehnbändiges Werk: »Notre pain quotidien« (»Unser tägliches Brot«). Der Autor erwähnte es immer wieder in einem Ton, als handle es sich um sein Meisterstück. Weil aber der Wert eines Buches sich oft erst den nachfolgenden Generationen erschließt, hatte er es nicht eilig, es zu veröffentlichen. Im Gegenteil: Er tat alles, um seinen Inhalt und seinen Aufbewahrungsort zu verschleiern. Auf diese Weise konstruierte er ein Geheimnis, das womöglich interessanter ist als das Buch selbst. Manchmal gab er einen beiläufigen Hinweis, der zur Lösung des Rätsels beitragen sollte, ohne es freilich endgültig zu lösen. Gelegentlich erzählte er, dass er seine Manuskripte unter falschem Namen und ohne nähere Bezeichnung in verschiedenen südamerikanischen Bankschließfächern deponiert habe. Dort warten sie angeblich bis heute auf ihren zufälligen Entdecker oder auf den Tag, an dem die Wahrheit ans Licht kommt und wir endlich erfahren, ob dieses verschollene Meisterwerk existiert oder nicht.
Verloren ist auch der dritte Band der »Anthologie nègre«, in dem all die Geschichten, Lieder und sonstigen mündlichen Überlieferungen notiert waren, die Cendrars in Afrika, Nord- und Südamerika, vor allem aber in den Elendsvierteln Brasiliens gehört und zusammengetragen hatte: die Literatur verlorener und versklavter Völker, nie aufgeschrieben, nur von Generation zu Generation weitererzählt.
Es waren die Geschichten der Verfolgten, Verbannten, Gesetzlosen und
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