Die Bibliothek der verlorenen Bücher
über die Erde herrschten. Von ihren unheimlichen Büchersammlungen ist in Lovecrafts Roman »Der Schatten aus der Zeit« die Rede. Nathaniel Wingate Peaslee, Professor an der Miscatonic University in Arkham, schlüpft in seinen dunklen Träumen in den Körper eines dieser fremdartigen Geschöpfe: »Im Traum bewegte ich mich jetzt körperlich inmitten der unbekannten Wesen, las in furchtbaren Büchern aus endlosen Regalen und schrieb stundenlang an den großen Tischen mit einem Griffel, den ich mit den von meinem Kopf herabhängenden grünen Tentakeln führte.« Die Bücher sind in Hieroglyphen und unbekannten Sprachen verfasst, die Peaslee auf kuriose Weise »mit Hilfe dröhnender Maschinen« erlernt, so dass er von unaussprechlichen und unerträglichen Dingen erfährt, die sich in ferner Zukunft zutragen werden, wenn knollige Pflanzenwesen vom Merkur die Erde besiedeln. Plötzlich wird ihm bewusst, dass sein Körper, den er im Jahr 1908 in Arkham zurückließ, von einem außerirdischen Geist benutzt wird, während er in Gestalt eines tentakelbewehrten Monsters durch die Zeiten irrt.
Da wir gerade von der Zukunft sprechen – besuchen wir zum Abschluss doch noch die königliche Bibliothek von Paris im Jahr 2440. Dort fühlen sich einige Bibliothekare berufen, alle überflüssigen Bände auszusortieren, eine Pyramide aus Journalen, bischöflichen Anordnungen, parlamentarischen Eingaben, Gerichtsplädoyers, Totenreden, 600000 Wörterbüchern,
100000 juristischen Bänden, einer Million sechshunderttausend Reisebeschreibungen und einer Milliarde Romanen aufzuhäufen und diese anzuzünden. Die Szene aus Louis-Sébastien Merciers Roman »Das Jahr 2440« zeigt, dass auch imaginäre Bibliotheken von wohlmeinenden Buchprüfern heimgesucht werden. Merciers Lieblingsautoren – Rousseau, Montesquieu, Buffon und Mirabeau – werden geschont, doch er selbst hatte weniger Glück: 1771 verurteilte die spanische Inquisition »Das Jahr 2440« als »gottlos, verwegen und gotteslästerlich« und verbrannte das Buch mit großem Eifer, was die Verbreitung und Überlieferung dieser aufklärerischen Utopie jedoch nicht verhinderte.
Bücher, die es vielleicht nicht gibt
W er seinen Lebensabend in einer geschlossenen Anstalt verbringen möchte, der versuche sich einmal an einer kompletten Bibliographie der imaginären Bücher der Weltliteratur – jener Bücher, die anscheinend nur in anderen Büchern auftauchen. Mein armer Kollege, der Unter-Bibliothekar, hat es einst versucht, um die frei erfundenen Werke von den wirklich verlorenen zu trennen, und ist kläglich gescheitert. Das Problem ist nicht allein die Vielzahl der in Frage kommenden Titel, sondern auch der jeweilige Nachweis, ob ein bestimmtes Werk tatsächlich nur ein Hirngespinst ist. Zuweilen wird ein Buch, das man als reine Fiktion betrachtet hat, in verschiedenen unabhängigen Quellen genannt oder zitiert. Zahllose Bücher, die man eigentlich dem Reich der Phantasie zuordnen möchte, weil sie ausschließlich in fiktionalen Texten erwähnt werden, tauchen plötzlich in Katalogen und Regalen auf, wo man sie nie vermutet hätte. Wer kann schon mit Sicherheit behaupten, dass das Lieblingsbuch Roderick Ushers in Edgar Allan Poes Erzählung über den »Untergang des Hauses Usher« nicht existiert? Es handelt sich um »Vigilae Mortuorum Secundum Chorum Ecclesiae Maguntinae«, ein seltenes Werk in gotischem Quartformat, Kultbuch irgendeiner vergessenen Kirche – und ich glaube, ich habe diesen Folianten einmal in einer verstaubten Ecke unserer Bibliothek gesichtet, als ich auf eine eilige Anfrage hin die nahe gelegenen Säle nach dem geheimnisvollen »Buch M« der alten Rosenkreuzer durchstöberte.
In den Cthulhu-Erzählungen H. P. Lovecrafts finden sich Hinweise auf interessante Abhandlungen, wie »Cultes des Goules« des Comte d’Erlette, Ludvig Prinns »De Vermis Mysteriis«, von Junzts »Unaussprechliche Kulte«, auf Fragmente des rätselhaften »Buches von Eibon« und das gefürchtete »Necronomicon« des verrückten Arabers Abdul Alhazred aus Sanaa im Yemen, das 1228 von Olaus Wormius nur unvollständig ins Lateinische übersetzt wurde. Wormius orientierte sich an der griechischen Ausgabe, die um 950 in Konstantinopel entstand, als das arabische Original »Al Azif« bereits verloren war. Angeblich enthält dieses Buch, das nach Alhazreds ausgedehnten Reisen durch die Wüste Rub al-Khali in Damaskus niedergeschrieben wurde, die letzten Geheimnisse aller üblen
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