Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
Vom Netzwerk:
und verbotenen Wissenschaften. Es ist ein alter Wälzer in Ebenholzdeckeln, die mit granatdurchsetzten Arabesken aus Silberdraht verziert sind. Die vergilbten Seiten verströmen einen ekelerregenden Friedhofsgeruch. Ob dieses und die anderen oben erwähnten Werke imaginär sind, scheint unsicher, da auch Autoren wie August Derleth, Clark Ashton Smith, Ramsey Campbell, Robert E. Howard und viele andere Meister des Unheimlichen sie erwähnen. Clark Ashton Smith hielt das »Necronomicon« zunächst für eine reine Erfindung seines Freundes Lovecraft. Ihm gefiel die Idee eines gefährlichen, todbringenden Buches, und er verwendete sie in seinen eigenen Geschichten. Eines Tages stöberte er in der Abteilung für okkulte Schriften eines New Yorker Antiquariats. Als sich der Antiquar höflich erkundigte, ob er behilflich sein könne, fragte Smith aus Spaß nach dem »Necronomicon«. »Das Necronomicon?«, entgegnete der Buchhändler. »Aber sicher – das haben wir!« Smith starrte ihn ungläubig an und dachte, sein Herz bliebe stehen. Wie sich herausstellte, existiert dieses Buch wirklich – wenn auch nur als bearbeitete fragwürdige Ausgabe. Das »Azif« bleibt ebenso verschollen wie eine fragmentarische Übersetzung, die Dr. John Dee angeblich anfertigte, aber nicht drucken ließ.
       Eine ähnlich schattenhafte Existenz führt ein rätselhafter französischer Roman, mit dem der heimtückische Dandy Sir Henry Wotton den Charakter des jungen Dorian Gray zu verderben sucht. Das Buch hat, wie alle moralisch bedenklichen Werke des Viktorianischen Zeitalters, einen gelben Einband. In Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Gray« wird vor allem seine Wirkung beschrieben: »Es war ein vergiftetes Buch. Der schwere Geruch von Weihrauch schien den Seiten zu entströmen und das Gehirn zu umnebeln. Die bloße Kadenz der Sätze, die satte Eintönigkeit ihrer Melodie, die doch so reich war an verschlungenen Wiederholungen und fortschreitenden Bewegungen, rief in dem jungen Mann, wie er Seite um Seite atemlos überflog, eine bestimmte Art zu träumen, ja eine Traumsucht hervor, die ihn den sinkenden Tag und die fallenden Schatten vergessen ließ.«
    Das vergiftete Buch Dorian Grays ist zweifellos ei
    nes der reizvollsten imaginären Bücher. Oscar Wildes herrliche Beschreibung hat unzählige Bibliomane verführt, über den faktischen Hintergrund dieser Geschichte zu spekulieren. Könnte ein so wunderbares und gleichzeitig gefährliches Buch wirklich existieren? In der Urfassung des Romans wird der Titel verraten: »Le Secret de Raoul« (»Raouls Geheimnis«) von Catulle Sarrazin. Der Name des Autors ist jedoch aus denen zweier Bekannter Oscar Wildes zusammengesetzt: Catulle Mendès und Gabriel Sarrazin. »Raoul« bezieht sich möglicherweise auf einen anderen Roman, »Monsieur Vénus« von Rachilde, in dem eine Lesbierin ihre Geliebte überredet, Männerkleidung zu tragen, was am Ende dazu führt, dass die verkleidete Dame zum Duell gefordert wird und stirbt.
       Ein Teil der Wahrheit kam 1895, fünf Jahre nach der Veröffentlichung des »Dorian Gray«, ans Licht. Oscar Wilde verklagte den Marquis of Queensbury, der ihn öffentlich als »Sodomiten« bezeichnet hatte. Während der Gerichtsverhandlung versuchten Queensburys Anwälte, Wildes homosexuelle Neigungen bloßzustellen, um die Verleumdungsklage abzuschmettern. Sie führten die Urfassung des »Dorian Gray« als Beleg für die unmoralische Gesinnung seines Autors an und fragten auch nach dem geheimnisvollen vergifteten Buch. Oscar Wilde bezeichnete freimütig »Gegen den Strich« von Joris-Karl Huysmans als Vorbild. Man fragte ihn nach der Moral dieses Buches, doch er verweigerte die Antwort. Es sei eine Zumu tung und Geschmacklosigkeit, von einem Schriftsteller zu verlangen, das Werk eines Kollegen moralisch zu beurteilen. Er hätte auch Lord Henry aus »Dorian Gray« zitieren können: »Bücher, die von der Welt als unmoralisch verurteilt werden, sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten.«
       Dorians giftiges Buch enthält zwei Kapitel über die Greueltaten der Renaissance, von denen in »Gegen den Strich« nichts zu finden ist. Man kann also davon ausgehen, dass Oscar Wilde entweder die wahre Identität seines Vorbildes verheimlichte oder diesen interessanten Aspekt seines Romans frei erfunden hat. Ich habe dennoch das merkwürdige Gefühl, dass eines Tages irgendjemand irgendwo in den entlegenen Sälen unserer Bibliothek ein gelbgebundenes Buch mit dem

Weitere Kostenlose Bücher