Die Bibliothek der verlorenen Bücher
erschreckende Weise. Für den abergläubischen Puschkin Anlass genug, sofort auf sein Landgut zurückzukehren, um in Sicherheit den Lauf der Dinge abzuwarten.
Alexander I. war am 19. November 1825 gestorben. In den darauffolgenden Wochen herrschte völlige Ungewissheit, wer sein Nachfolger sein würde. Die Intellektuellen und jungen Offiziere setzten auf den in Polen lebenden Konstantin, von dem man die Unterstützung einer konstitutionellen Monarchie erhoffte. Doch dieser hatte wiederholt seinen Thronverzicht erklärt. Dessen ungeachtet wurden das Militär und die Beamten bereits auf den zukünftigen Zaren Konstantin vereidigt. Am 12. Dezember war schließlich klar, dass der Verzicht endgültig sein würde. Zwei Tage später wurde Konstantins Bruder Nikolai Pawlowitsch zum Zaren ausgerufen.
Die Träume von politischer Veränderung und neuer Freiheit zerplatzten. Nikolai war bei der geistigen und aristokratischen Elite als kaltblütiger Tyrann verschrien. In der kurzfristigen Verwirrung um die Thronfolge hatten viele eine Chance für eine schnelle und unblutige Revolution gesehen. Am 13. Dezember hatten sich die Verschwörer in der Wohnung des Dichters Rylejew versammelt, den auch Puschkin aufsuchen wollte. Viele seiner Freunde und ehemaligen Klassenkameraden waren anwesend, als man beschloss, die Vereidigung des neuen Zaren zu verhindern.
Der Aufstand der Dekabristen – benannt nach dem Monat Dezember – wurde binnen kürzester Zeit niedergeschlagen. Nikolai ließ die Anführer hinrichten, die Mitverschwörer wurden in Straflager verbannt. Puschkin blieb trotz seiner engen Beziehung zu den Aufständischen unbehelligt in Michailowskoje, wo er erst Tage später erfuhr, dass ein Hase ihn gerettet und ein Mönch die russische Literatur vor einem ungeheuren Verlust bewahrt hatte. »Pique Dame«, meine liebste Erzählung von Puschkin, wäre vielleicht nie geschrieben, sein Roman »Die Hauptmannstochter« nie veröffentlicht und das große Gedicht »Eugen Onegin« nie vollendet worden.
Und doch gibt es einen schmerzlichen Verlust, denn Puschkin verbrannte nicht nur sämtliche Papiere, die seine Freunde hätten belasten können, sondern auch den Entwurf einer umfangreichen Autobiographie. Das Werk, an dem er bereits vier Jahre gearbeitet hatte, hätte uns einiges über den jungen Dichter, seine künstlerische Entwicklung, seine politische Überzeugung, seine Eskapaden und Liebschaften erzählen können. Es versammelte sicher mehr als nur eine Reihe amüsanter Anekdoten, denn Puschkin hatte schon mit 23 Jahren erkannt, dass die russische Literatur »mit Erinnerungen an die schöne Jugendzeit allein keine Fortschritte machen wird«.
Das gefährlichste Buch der Welt
I m späten 16. und frühen 17. Jahrhundert konnte sich die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Abhandlung oder einer gewagten Theorie durchaus als lebensgefährlich erweisen – besonders wenn sie den herrschenden Dogmen von Kirche und Staat widersprach. Auf Ketzerei stand der Tod. Viele Gelehrte verzichteten daher bewusst auf eine Publikation und ließen ihre Werke in wenigen Abschriften kursieren, um sicherzugehen, dass sie nicht in falsche Hände fielen. Ihre privaten Bibliotheken und Sammlungen öffneten sie nur einem engen Kreis von Eingeweihten und Adepten. Vieles, was damals nicht in Druck gehen und nur in vertraulichen Gesprächen ausgetauscht werden konnte, ging im Lauf der Zeit verloren. Von bahnbrechenden und visionären Schriften lassen sich zuweilen noch einige Titel in Bibliographien aufspüren.
Der englische Okkultist und Alchimist Dr. John Dee war einer der Vordenker der christlichen oder »weißen« Kabbala, die mittels komplexer Zahlenmystik den gemeinsamen Nenner der großen Weltreligionen zu finden versuchte. 1556 schlug er die Gründung einer Nationalbibliothek vor, doch seine Idee fand keine Unterstützung. So baute er in seinem Haus in Mortlake eine Privatbibliothek auf, die bald Tausende wertvolle und oft einmalige Bücher und Ma nuskripte in allen denkbaren Sprachen umfasste. Seeleute, Mathematiker, Astrologen, Historiker und Poeten – berühmte Männer wie Sir Philip Sidney und Edmund Spenser – reisten nach London, um in dieser ungeheuren Sammlung nach seltenen Karten, geheimen Informationen und neuen Erkenntnissen zu suchen. Das Herz der Bibliothek bildeten rare Werke von Autoren, die als Ketzer verschrien waren: Johannes Reuchlin, Cornelius Agrippa, Pico della Mirandola und Ramon Lull.
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