Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Projekt war bereits Anfang des 19. Jahrhunderts – auch auf Goethes Anregung – geplant worden, 1888 wurde mit der Arbeit begonnen. Anfang des 20. Jahrhunderts kam man auf die Idee, die Katalogisierung auf alle deutschen Bibliotheken zu erweitern. Bis 1935 wurden neun Bände veröffentlicht, die lediglich den Buchstaben »A« abdeckten, sowie der Sonderband »Goethe«. 1939 erschien Band 14, »Beauchchamp bis Beethordnung«. Im Zweiten Weltkrieg wurde das angeblich bereits druckfertige Manuskript der Folgebände des nunmehr deutschen Gesamtkatalogs nach Pommern ausgelagert, wo sich seine Spur verliert. Die Umstände seines Verschwindens sind bis heute ungeklärt. Das ehrgeizige Projekt wurde nie zum Abschluss gebracht, obwohl
1979 noch ein letzter, der 15. Band erschien, der vor Kriegsbeginn fertiggestellt, aber nicht gedruckt worden war. Fachleute schätzen, dass das Unternehmen bis zum Jahr 2139 weitergeführt werden müsste, um den letzten Buchstaben des Alphabets zu erreichen.
Diesem Gesamtkatalog werden wohl nur ein paar preußischstämmige Bibliothekswissenschaftler nachtrauern. Ganz anders ist dies natürlich bei literarischen Werken. So erzählen die Brüder Arkadi und Boris Strugatzki, deren gemeinsam verfasste ScienceFiction-Romane in der Sowjetunion millionenfach verkauft wurden, in ihrem kleinen Selbstporträt »Unsere Biographie« von der Belagerung Leningrads und einem Jugendwerk, das dort verlorenging.
Der damals 16-jährige Arkadi beteiligte sich am Bau der Verteidigungsanlagen und arbeitete Anfang
1942 in einer Manufaktur, in der Handgranaten hergestellt wurden. Die Stadt stand unablässig unter dem Beschuss der deutschen Luftwaffe und Artillerie. Unter der Bevölkerung herrschten Hunger und Seuchen, und der winterliche Frost machte die schreckliche Lage noch unerträglicher. Nachdem Arkadi und sein Vater Natan die Ruhr bekommen und nur mit knapper Not überlebt hatten, beschlossen sie, die Stadt so bald wie möglich zu verlassen. Es gelang ihnen, Plätze bei einer der ersten Evakuierungsaktionen zu ergattern. Mitarbeitern der Stadtbibliothek, die bei der frühen Auslagerung der Bücher nach Melekess nicht dabei gewesen waren, wurde die Gelegenheit gegeben, nachzureisen, und die Strugatzkis bekamen wegen guter Beziehungen zur Verwaltung die Möglichkeit, sich ihnen anzuschließen. Der »Zug des Lebens« sollte über das Eis des Ladogasees führen. Der kleine, gerade achtjährige Boris, der für die strapaziöse Reise zu schwach war, sollte mit der Mutter zunächst in Leningrad bleiben. Eine glückliche Entscheidung, denn der Lastwagen, auf dem sich unter zahlreichen Flüchtlingen auch Arkadi Strugatzki und sein Vater befanden, brach bei einem durch die Bombardierung entstandenen Loch durch das Eis. Die wenigen, die mit dem Leben davonkamen, mussten tagelang völlig durchnässt, ohne Nahrung, ohne Möglichkeit zum Aufwärmen durch Eis und Schnee bis zur nächsten Bahnhofsstation wandern. Arkadi überlebte, sein Vater starb an Erschöpfung.
Arkadi Strugatzkis literarischer Erstling, ein nach seinen Worten »haarsträubender phantastischer Roman« mit dem Titel »Der Fund des Majors Kowaljow«, den er mit schwarzer Tinte in zwei Schulhefte geschrieben hatte, blieb in Leningrad zurück und wurde nie wieder gefunden. Über seinen Inhalt ist nichts Näheres bekannt. Arkadis Bruder Boris erinnerte sich lediglich an den Augenblick der Trennung, als die Mutter noch nicht von der Arbeit zurück war, an den großen Vater in Uniform mit schwarzem Bart und an die Worte: »Sag der Mama, dass wir nicht warten konnten.«
Auch über das letzte Werk des ungarischen Schriftstellers Károly Pap weiß man wenig. Pap stammte aus einer angesehenen Budapester Rabbinerfamilie. Er kämpfte als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und in der Roten Armee Ungarns. In seinem autobiographischen Roman »Azarel« setzte er sich kritisch mit seiner jüdisch-orthodoxen Herkunft auseinander. Das Buch erzählt von der inneren Zerrissenheit eines Knaben, der zunächst von seinem fanatisch-religiösen Großvater erzogen wird und nach der Rückkehr zum Vater, einem liberalen und modernen Rabbiner, an der Unerklärbarkeit Gottes verzweifelt und jeden Halt verliert. Die Rebellion gegen die eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln scheitert ebenso wie die Anpassung an die traditionelle Lebensweise. Der Zionistische Verein Budapests hielt den Roman für einen Angriff auf das aufgeklärte Judentum und rief den
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