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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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Chadwicks Schilderungen lesen, bleiben sie ebenso verloren wie all die wundervollen Bücher, die nicht geschrieben oder veröffentlicht werden konnten, weil irgendein abscheulicher Krieg es verhinderte, und die in den prachtvollen Sälen unserer Bibliothek vergeblich davon träumen, die Welt zu verändern.

    Puschkins Hase

    P uschkin muss nach Sibirien geschickt werden! Er überflutet ganz Russland mit aufrührerischen Versen. Die ganze Jugend kennt sie auswendig.« Zar Alexander I. traf beim Spazierengehen im Park von Zarskoje Selo, St. Petersburg, den Rektor des Lyzeums, das Alexander Puschkin vor kurzem mit eher mittelmäßigen Zeugnissen verlassen hatte. Rektor Engelhardt, der das poetische Talent seines ehemaligen Zöglings ebenso gut kannte wie dessen Begeisterung für die freiheitlichen Ideale – eine für die aristokratische und großbürgerliche Jugend des frühen 19. Jahrhunderts durchaus typische Haltung –, wagte es, Seiner Majestät zu widersprechen. Puschkin sei bereits eine Zierde der russischen Literatur, man könne von ihm noch größere Leistungen erhoffen, eine Verbannung würde lediglich den Charakter des jungen Mannes verderben. Puschkin wusste, dass er in ernster Gefahr schwebte, aber er ahnte nicht, dass seine Fürsprecher ihren Einfluss bei Hofe geltend machen würden, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren.
       Seine frühen Gedichte lagen noch nicht gedruckt vor, sie existierten lediglich in Abschriften, die von Freunden und Anhängern herumgereicht wurden. Viele der Gedichte wurden auf diesem Wege so populär, dass sie eifrig auswendig gelernt und in fröhlichen Runden öffentlich rezitiert wurden. Für die Herr schenden war dies eine heikle Angelegenheit. Puschkins Verse sangen nicht nur von der Freiheit und dem Ende der Knechtschaft des Volkes, sie riefen zudem offen zur Revolution auf, zur Gründung einer Republik, zum Sturz des Zaren. Für die übereifrigen Polizeispitzel, die aufmerksam die Stimmung und die Lieder der Straße verfolgten, war kaum zu unterscheiden, welche der brisanten Verse nun von Puschkin selbst stammten und welche ihm nur zugeschrieben wurden.
       Die Situation geriet zusehends außer Kontrolle, und es schien nur einen Ausweg zu geben: Der Dichter musste sich den Behörden stellen. Puschkin verbrannte all seine Manuskripte, die als Beweis gegen ihn hätten verwendet werden können, und eilte zum Generalgouverneur von St. Petersburg, Graf Miloradowitsch, der bereits höchste Order erhalten hatte, den jungen Poeten zu verhaften. Puschkin erklärte dem Grafen, er habe seine Gedichte verbrannt. Doch habe er die Texte noch vollständig im Gedächtnis und könne sie gern allesamt neu zu Papier bringen und dabei anmerken, welche von ihm seien und welche lediglich unter seinem Namen kursierten.
       Graf Miloradowitsch war von Puschkins Auftritt überrascht und gerührt. Da er ein heimlicher Romantiker war und einiges für ritterliche Gesten übrighatte, entschloss er sich, für den Dichter einzutreten und die Höchststrafe von ihm abzuwenden. Er ließ Puschkin seine Gedichte niederschreiben und brachte das Heft dem Zaren – mit der Bemerkung, es sei wohl besser, wenn Seine Majestät die frevelhaften Zeilen nicht lese. Dann schilderte er seine Begegnung mit dem Autor der brisanten Gedichte.
       »Und was hast du mit ihm gemacht?«, fragte Zar Alexander.
       »Tja, ich habe ihn im Namen Eurer Majestät begnadigt.«
       Puschkin kam noch einmal davon. Er wurde nicht nach Sibirien verbannt, sondern lediglich in die südlichen Provinzen des Reiches »versetzt«. Er verließ die Hauptstadt am 6. Mai 1820, kurz vor seinem 21. Geburtstag.
       Fünf Jahre später erreichte die Nachricht vom Tod des Zaren Michailowskoje, das Landgut der Familie Puschkin. Der Dichter, der lange Zeit auf Reisen und in der Provinz verbracht hatte, wollte die Gelegenheit nutzen, um nach St. Petersburg zurückzukehren. Er vermisste seine Freunde und das Flair der Großstadt – die Spielhöllen, Schnapsbuden und Bordelle.
       Auf dem Weg von Trigorskoje, wo er sich von einigen Bekannten verabschiedete, nach Michailowskoje sah Puschkin einen Hasen über die Straße hoppeln – im russischen Aberglauben ein böses Omen. Kurz vor der Abreise nach St. Petersburg erkrankte ein Diener, der ihn begleiten sollte, so dass es zu einer weiteren Verzögerung kam. Auf dem Weg in die Hauptstadt wurde ein Mönch in schwarzer Kutte gesichtet: Die bösen Vorzeichen häuften sich auf

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