Die Bibliothek der verlorenen Bücher
niedergeschrieben. Den Mitgliedern des Geheimbundes, der es über die Jahrhunderte hütete, wurden übernatürliche Fähigkeiten nachgesagt: Sie konnten die Pest heilen, über große Entfernungen kommunizieren und beherrschten alle Sprachen der Welt. Von jenen, die auszogen, das »Liber Mundi« zu suchen, kehrte niemand zurück.
Ein kryptisches Pamphlet der Rosenkreuzer deutet an, dass das Buch mit anderen Schätzen im Grabgewölbe des Ordensgründers Christian Rosencreutz versteckt wurde. Francis Bacon behauptete, die verlorenen Bücher Salomons seien in der Bibliothek von Neu Atlantis zu finden; das »Liber Mundi« erwähnt er aber nicht ausdrücklich, sondern lediglich eine Naturgeschichte Salomons über alle Pflanzen der Welt. John Heydon bemerkte allerdings in seiner auf Bacons utopischem Reisebericht basierenden Abhandlung »The Holy Guide« von 1662, dass sich das von den Rosenkreuzern verehrte »Buch M« tatsächlieh in Neu Atlantis befinde, wo es sicher und weitgehend ungelesen verwahrt werde.
Die Lektüre dieses gefährlichsten aller okkulten und esoterischen Texte ist keineswegs empfehlenswert. Man stelle sich vor, man könne in einem Buch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lesen! Auf diesem Weg lauert der Wahnsinn, und mir wurde verboten, mehr von diesem geheimnisumwitterten Werk zu erzählen. Ein kleiner Hinweis sei mir noch gestattet: Das letzte Wort auf der letzten Seite des »Liber Mundi« hat vier Buchstaben und beginnt – in der Übersetzung – mit »e«.
Schattenschriften der Antike
W ie bereits an anderer Stelle vermerkt, ist von den Schriften der Antike weniger als ein Zehntel erhalten. Das meiste ging im Lauf der Jahrhunderte durch Feuer, mutwillige Zerstörung, natürlichen Zerfall, durch Mäusefraß und Fäulnis verloren. Nicht wenige Manuskripte wurden zweckentfremdet und als Einwickelpapier für Lebensmittel, als Babywindel oder zur Säuberung unaussprechlicher Körperteile benutzt. Nebenbei mussten die Werke der antiken Autoren noch verschiedene Veränderungen der schriftlichen Überlieferung überleben: Das Schreibmaterial änderte sich vom Papyrus zum Pergament, die Buchform von der Schriftrolle zum Codex, dem Buch in gebundener Form. Die ältesten Papyri stammen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., Papyruscodices sind ab dem 2. Jahrhundert nach Christus nachgewiesen. Im 9. Jahrhundert v. Chr. ging man dazu über, Schreibmaterial aus Lumpen zu gewinnen, das sich allerdings als weniger haltbar erwies als das aus Tierhaut gewonnene Pergament. Viele antike Werke sind eher in frühen Abschriften auf Papyri erhalten als in Abschriften jüngeren Datums, da die Papyrusblätter im trockenen und heißen Klima Ägyptens die Zeit gut überdauerten. Kostbares Pergament wurde oft mehrmals verwendet, indem man den ursprünglichen Text abwusch oder abschabte und überschrieb. Bei diesen Palimpsesten kann man zuweilen die Originalschrift durch ultraviolettes Licht sichtbar machen und so verlorengeglaubte Texte aufspüren, die irgendein Mönch des Mittelalters mit erbaulichen religiösen Traktaten überkritzelte, die er für bedeutsamer hielt.
Wie, so fragt man sich zwangsläufig, konnte überhaupt irgendein Werk der Antike diese grundlegenden Änderungen in der Überlieferung überdauern, nachdem es brennenden Bibliotheken, ausgehungerten Nagetieren und der antiken Klopapierindustrie glücklich aus dem Weg gegangen war – und warum sind es ausgerechnet Autoren wie Sophokles und Euripides, die alle Katastrophen überlebten, während von anderen nicht einmal der Name blieb? Die Antwort liegt in der schlichten Tatsache verborgen, dass bestimmte Werke und bestimmte Autoren bevorzugt im Unterricht genutzt und darum weitaus fleißiger kopiert wurden. Die in den Schulen verwendeten Auswahlausgaben großer Dichter, Philosophen und Dramatiker wurden auf diese Weise gerettet, während die Gesamtausgaben derselben Autoren, die in den großen Bibliotheken archiviert, studiert und meist nur für andere Bibliotheken kopiert wurden, mitsamt diesen prachtvollen Sammlungen in Krieg, Feuer und Zerstörung untergingen. So sind von den Tausenden griechischen Tragödien bekannter und unbekannter Autoren nur jene 32 überliefert, die wir von Aischylos, Sophokles und Euripides kennen – und diese wiederum sind nur ein Bruchteil ihres Gesamtwerkes.
Stellvertretend für die verschollenen Meisterstücke namenloser Autoren, die vor langer Zeit ihr Publikum erfreuten, gebe ich hier den Inhalt
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