Die Bibliothek der verlorenen Bücher
einer Tragödie des einst berühmtesten Theaterdichters von Abdera wieder, eines anonymen Schülers des ebenfalls vergessenen großen Hyperbolus: Es geht darin um einen Held, »der in der ersten Szene des ersten Aktes seinen Vater ermordet, im zweiten seine leibliche Schwester heiratet, im dritten entdeckt, dass er sie mit seiner Mutter gezeugt hatte, im vierten sich selber Ohren und Nase abschneidet, und im fünften, nachdem er die Mutter vergiftet und die Schwester erdrosselt, von den Furien mit Blitz und Donner in die Hölle geholt wird«. Diese auf etwas unsicheren Quellen beruhende Beschreibung aus Wielands »Geschichte der Abderiten« zeigt zumindest, dass die musischen Vorlieben der alten Griechen nicht viel erhabener waren als die der nachfolgenden Kulturen.
Walther Kranz erwähnt in seiner »Geschichte der griechischen Literatur« die fast gänzlich verlorene Trivialliteratur der Antike nur am Rande und beschränkt sich weitgehend auf den schulischen Kanon. Er schreibt, dass trotz der überraschend reichhaltigen Auswahl überlieferter Texte die Feindschaft der mittelalterlichen Kirche vielem verderblich gewesen sei. Zudem habe ein Mangel an Liebe und Verständnis in byzantinischen Zeiten vieles zugrunde gehen lassen: »So ist uns zwar sehr vieles Vorzügliche, gewiss das Hervorragendste, erhalten geblieben, aber dazu auch Minderwertiges, und manches andere Vorzugliehe, wie Sappho und Menander, Demokrit und die Jugendschriften des Aristoteles, ist uns fast entschwunden.« »Fast entschwunden« heißt hier, dass die genannten Werke zumindest fragmentarisch überliefert sind. Von Sappho, die Mädchen aus vornehmen Familien in Saitenspiel, Gesang und Tanz unterrichtete und noch heute als Meisterin der Liebeslyrik gepriesen wird, ist nur ein einziges Gedicht vollständig erhalten. Doch die Fragmente sind schön genug:
Untergegangen der Mond
Und die Plejaden. – Mitternacht –
Vorüber zieht die Stunde.
Ich aber schlafe allein.
Von den zahlreichen Heldenepen der Antike wurden nur Homers »Ilias« und »Odyssee« in unsere Zeit gerettet. Andere – wie Hesiods »Titanenkampf«, der die Entstehung der Welt beschrieb – hinterließen nichts als verblasste Spuren und vage Inhaltsangaben. Homer scheint indes noch ein weiteres, komisches Epos geschrieben zu haben, den »Margites«. Aristoteles lobt dieses verlorene Werk in seiner »Poetik«. Es verhalte sich zur Komödie so wie die »Ilias« und die »Odyssee« zur Tragödie. Homer habe als Erster die Formen der Komödie gedeutet und das Lächerliche dramatisiert. Der »Margites« schildert die Abenteuer eines antiken Eulenspiegels, der Großes vollbringen will und sich dabei immer wieder zum Narren macht. So will er die Meereswellen zählen, kennt aber nur die Zahlen eins bis fünf. Er würde gern heiraten, weiß aber nicht, wie man das anfängt. Mehr ist nicht bekannt, doch gibt es im dritten Gesang der »Ilias« eine merkwürdige Anspielung auf ein phantastisches Epos, das den Kampf zwischen Kranichen und Pygmäen schilderte: »So wie sich ein Geschrei von Kranichen erhebt unter dem Himmel, / die, wenn sie nun dem Winter entfliehen und dem unsäglichen Regen, / mit Geschrei dann fliegen zu des Okeanos Fluten, / den Pygmäen-Männern Mord und Todesschicksal zu bringen.«
Spuren gänzlich entschwundener Bücher findet man nicht nur in alten Abhandlungen über die Dichtkunst und zufällig erhaltenen Katalogen antiker Sammlungen, sondern oft auch in Beständen imaginärer Bibliotheken. Offenbar bevorzugen die Bibliothekare des Imaginären die verschollenen Werke der römischen Antike. Jorge Luis Borges erwähnt in seiner Erzählung »Die Bibliothek von Babel« die verlorenen Bücher des Tacitus. Der dekadente Bibliomane in Huysmans Roman »Gegen den Strich« trauert um den Verlust des »Eustion« und der »Albutia« seines Lieblingsautors Petronius. In Christoph Ransmayrs Roman »Die letzte Welt« schreibt der römische Dichter Ovid im Exil an einem »Buch der Steine«. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um ein imaginäres Werk, während seine Tragödie »Medea« wohl tatsächlich existierte, aber als verschollen gilt. In Ovids »Tristia« gibt es zudem die sonderbare Geschichte eines Buches, das der Autor aus dem Exil nach Rom schickte, damit es Auf nahme in einer der öffentlichen Bibliotheken finde. Das Buch selbst erzählt von seiner langen und beschwerlichen Suche nach einer Unterkunft. In der kaiserlichen Bibliothek fragt es nach seinen
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