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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und wer weiß wohin driftende Russland abwartend aus der Distanz.
    Der weise Sir Alexander pflegte zu sagen: »Schnell ändern kann sich eine Gesellschaft nur zum Schlechten hin – das nennt man Revolution. Alle Änderungen zum Guten, genannt Evolution, gehen sehr, sehr langsam vonstatten. Glaub der Schwadroniererei der neuen Russen von menschlichen Werten nicht. Wehe, wenn die Ostgoten erst mal ihr wahres Gesicht zeigen.«
    Wie immer sollte der Vater Recht behalten. Die Heimat seiner Vorfahren überrumpelte Nicholas mit einer unangenehmen Überraschung. Zum ersten Mal in seinem Leben schämte er sich, Russe zu sein. Früher, als das Land Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hieß, brauchte man sich nicht mit ihm zu identifizieren, doch jetzt, da es zu seinem früheren magischen Namen zurückgekehrt war, war es schwerer geworden, sich von ihm abzugrenzen. Es versetzte dem armen Nicholas einen Stich ins Herz, als er im Fernsehen die kriegerischen Auseinandersetzungen im Kaukasus sah, und er verzog peinlich berührt das Gesicht, als der betrunkene russische Präsident Jelzin in Berlin vor dem erschreckten Orchester den Dirigenten mimte. Man sollte meinen, was kümmert ihn, den Londoner Magister der Geschichte, eigentlich dieser ungeschlachte Kerl, der aus den Reihen der früheren Parteisekretäre stammte? Der einzige Grund war: Jelzin war kein sowjetischer, sondern ein russischer Präsident. Wie hieß es doch so richtig: Benenne ein Ding mit einem anderen Wort, es ändert sofort sein Wesen . . .
    Ach, wenn es nur der Präsident gewesen wäre! Nein, das Schlimmste am neuen Russland war die grausliche Mischung aus völlig unbegründetem Hochmut und peinlichem Minderwertigkeitskomplex, die schon der alte Dershawin auf die berühmte Formel gebracht hatte: »Ich bin Zar, ich bin Sklave, bin ein Wurm, ich bin Gott.« Diese ewige mit drohendem Gerassel verrosteter strategischer Waffen untermalte Bettelei! Diese Unverschämtheit der neuen Elite! Nein, Nicholas sehnte sich nicht danach, den Boden seines geistigen Vaterlandes zu betreten, und doch wusste er, dass er früher oder später dieser Begegnung nicht würde ausweichen können. Und so bereitete er sich insgeheim darauf vor.
    Im Unterschied zu seinem Vater, der Nachrichten aus Moskau demonstrativ nicht zur Kenntnis nahm und noch immer »Aeroplan« und »Salaire« statt »Flugzeug« und »Gehalt« sagte, bemühte sich Fandorin junior up to date zu sein (auch das eine Wendung, die Sir Alexander strikt ablehnte), verfolgte alle Nachrichten aus Russland, suchte die Bekanntschaft mit Russen, die sich vorübergehend im Ausland aufhielten, und notierte sich seitenweise neue Wörter und Ausdrücke in ein eigens dafür angelegtes Vokabelheft: wie man eine Zitrone maust = wie man eine Million stiehlt (»mausen«, vgl. englisch: to rat). »Zitrone«: semantischer Ersatz für das Wort »Limone«, das hier homonym für das Wort »Million« steht, usw. Nicholas liebte es, vor irgendeiner russischen Touristin mit seiner makellosen Moskauer Aussprache und der Kenntnis der neuesten Aussprüche zu prahlen. Der perfekt einstudierte Trick verfehlte seinen Eindruck auf die russische Damenwelt nie: ein zwei Meter langer Londoner Lulatsch mit ungewohnt höflichen Umgangsformen, einem idiotischen Keepsmiling auf den Lippen und einem makellos geraden Mittelscheitel, kurz, so ein hundertprozentiger englischer Gentleman, sagt auf einmal: »Liebe Natascha, wollen wir nicht nach Chelsea zwitschern? Da ist jetzt voll der Bär los.«
    ***
    Einen Tag, nachdem Nicholas sich im Fernseher an der Dirigentenkunst des russischen Präsidenten ergötzt hatte, ereignete sich etwas, das für ihn zu einem ersten Schritt in Richtung auf eine Begegnung mit dem Vaterland werden sollte.
    Dem immer glänzenden, unfehlbaren Sir Alexander unterlief der einzige Fehler seines Lebens. Fandorin senior buchte für die Reise nach Stockholm, die er mit seiner Frau unternahm (und die zur schnelleren Verleihung des sicheren, aber immer noch auf sich warten lassenden Nobelpreises beitragen sollte), nicht einen Flug, sondern die kurze, vergnügliche Fahrt über die Nordsee mit der Fähre »Christiania«. Ja, ja, eben die »Christiania«, die aufgrund eines unglaublichen Zusammentreffens von Fehlern im Computersystem im Nebel mit einem Öltanker zusammenstieß und kenterte. Es kam zu einem entsetzlich unzivilisierten Gerangel um die Plätze in den Rettungsbooten, und die, die keinen Platz mehr abbekamen, wurden dahin

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