Die Bibliothek des Zaren
dann auf, wenn sie die Züge konkreter Menschen annahm, die einmal über die Erde geschritten waren, frische Luft geatmet, gerechte und schreckliche Taten vollbracht hatten und dann gestorben und für immer verschwunden waren. Er konnte nicht glauben, dass man plötzlich ein für alle Mal verschwinden kann. Die Gestorbenen werden einfach unsichtbar für die Lebenden. Die Worte eines neurussischen Dichters, von dem sogar der unversöhnliche Sir Alexander einige Verse gelten ließ, verstand Fandorin nicht nur als Metapher: »Tod gibt’s auf Erden nicht. / Unsterblich alle. Und unsterblich alles. Fürchte Den Tod mit siebzehn Jahren nicht, / Mit siebzig nicht. Es gibt nur Sein und Licht, / Nicht Finsternis noch Tod auf dieser Erde. / Wir stehn am Meeresrand schon lange Zeit, / Ich bin bei denen, die die Netze nehmen, / Wenn wie ein Schwarm zieht die Unsterblichkeit.«
Man muss möglichst viel über einen Menschen aus der Vergangenheit erfahren: wie er gelebt hat, was er gedacht hat, Dinge berühren, die er besessen hat – dann wird derjenige, der auf immer in der Finsternis verschwunden gewesen ist, ins Licht gehoben, und es stellt sich heraus, dass es in Wahrheit gar keine Finsternis gibt.
Das war keine rationale Position, sondern ein tiefes Gefühl, das sich schlecht in Worte fassen lässt. Auf jeden Fall brauchte man dergleichen unverantwortliche, halbmystische Anschauungen ja nicht unbedingt Professor Crisby auf die Nase zu binden. Im Grunde genommen hatte Fandorin deshalb auch nicht die Geschichte des Altertums, sondern die des 19. Jahrhunderts gewählt, weil es leichter ist, den gestrigen Tag in Augenschein zu nehmen als den vorgestrigen. Aber das Studium der Biografien von so genannten historischen Persönlichkeiten gab ihm nicht das Gefühl persönlicher Betroffenheit. Nicholas fühlte sich nicht verbunden mit Leuten, die ohnehin jeder kannte. Er dachte lange darüber nach, wie er sein privates Interesse mit seiner beruflichen Beschäftigung verbinden könnte, und fand schließlich auch eine Lösung. Wie häufig der Fall, lag die Antwort auf die schwierige Frage zum Greifen nah: Sie fand sich im Arbeitszimmer des Vaters, auf dem Kaminsims, wo eine unscheinbare geschnitzte Ebenholzschatulle stand.
***
Großmutter Jelisaweta Anatoljewna, die viele Jahre vor Nicholas’ Geburt gestorben war, hatte 1920 von der Krim nur zwei Sachen von Wert mitgebracht. Die erste war Sir Alexander in spe, der damals noch im Mutterleib gesteckt hatte. Die zweite: ein Kästchen mit Erinnerungsstücken der Familie.
Das interessanteste dieser Erinnerungsstücke war ein vergilbtes Heft, von vorne bis hinten gefüllt mit der regelmäßigen, pedantischen Schrift des Ururgroßvaters Isaaki Samsonowitsch, der als Kanzleibeamter im Moskauer Archiv des Justizministeriums gearbeitet und den Stammbaum der Sippe der Fandorins aufgestellt und mit detaillierten Kommentaren versehen hatte.
Es gab in der Schatulle auch sehr viel ältere Gegenstände, so zum Beispiel ein Kreuz aus Zypressenholz, das, wie der Familienchronist versicherte, dem legendären Begründer des Geschlechts, dem Kreuzfahrer Theo von Dorn, gehört haben soll.
Oder eine kupferrote, über die Jahrhunderte nicht verblichene Haarlocke, eingewickelt in Pergament, auf dem, nur mit Mühe zu erkennen, »Laura 1500« stand. Isaaki Samsonowitschs Anmerkung dazu war lapidar: »Frauenlocke unbekannter Herkunft.« Oh, wie hatte die geheimnisvolle rothaarige Laura, die hinter dem undurchdringlichen Vorhang der Jahrhunderte verborgen war, in der Kindheit Nicholas’ stürmische Fantasie erregt!
Auf dem Tisch des Vaters stand das aus ebendiesem Kästchen stammende Foto mit dem Porträt eines bildschönen brünetten Mannes mit traurigen Augen und imposanten grauen Schläfen. Das war Großvater Erast Petrowitsch, eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Gestalt.
Und wie wertvoll erst die Notiz der großen Zarin war, die auf ein Blatt Velinpapier eigenhändig nur drei Worte geschrieben hatte, aber was für welche: »In ewiger Dankbarkeit!« Und unten prangte der berühmte Namenszug: »Katharina«. Vater hatte gesagt, in der Schatulle hätten sich einst auch die Orden des Großvaters befunden, darunter auch solche aus Gold und mit Edelsteinen besetzte, aber Großmutter habe sie in Zeiten der Not verkauft. Und das habe sie richtig gemacht. Was sollte an diesen Wladimir – und Stanislaus-Orden schon Besonderes sein, die Antiquitätenläden waren voll davon, aber dass Jelisaweta Anatoljewna
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