Die Bienenkönigin
hatte ich oft daran gedacht. Eine halbe Stunde warten
– und dann die neunzig Seconal nehmen, die ich gesammelt hatte. Mehr als fünf Minuten würde es nicht dauern, bis ich – ganz
sicher – hinüber wäre.
Wie hatte mir entgehen können, dass er von Anfang an gewusst hatte, wie sehr mir Sex zuwider war. Meine Lust, mein Gebaren
– nichts als Lüge, Verstellung, Trug. Es hatte nicht ausgereicht. Aber warum war er geblieben? Warum hatte er mich nicht verlassen?
Typisch aber für sein Genie, dass er eine Lösung fand, damit |51| unangenehme Umstände, die unsere Trennung begleiten würden, nicht seine geheiligte Kunst beeinträchtigten – eine Mätresse
mit dem entsetzlichen Namen Bee, die ihm bot, was ich ihm nicht geben konnte. Aber die Briefe? Waren sie mit dem Hintergedanken
zwischen meine geordnet worden, dass ich sie fand und die Rüge herauslas? Oder waren sie eine letzte Botschaft, dass trotz
allem – eben weil er eine Frau erwählte, die mir ähnelte – ich allein seine wahre Liebe blieb? Nein – wahrscheinlich hat es
ihn einfach nur amüsiert, ein Paradox zu schaffen, das (für manche) eine potentielle Wahrheit bestimmen könnte. Er hielt es
mit dem Diktum Goethes: Das Erste und Letzte, das von einem Genie verlangt werde, sei die Liebe zur Wahrheit. Aber welche
Wahrheit? War das etwa Talbots Wahrheit – dass wir, erst wenn alle sexuellen Schranken gefallen sind, frei genug sind, unsere
Individualität den Grenzen anzupassen, die die Welt uns setzt, und den Ansprüchen zu genügen, die sie uns auferlegt? Der Gedanke
erfüllte mich mit Schrecken, denn diese Welt wäre ein Ort ungebändigter Impulsivität, an dem unaussprechliche Phantasien,
perverse Gelüste, besitzergreifende Liebe und sämtliche andere egozentrischen und infantilen Leidenschaften fortleben, unbeeinflusst
von der Zivilisation oder einem menschlichen Reifeprozess. Und was hatte es auf sich mit dieser Bienenkönigin hoch droben
in ihrem Schloss – Akeru –, erbaut von
ihrem
Gebieter –
meinem
Ehemann? Was für eine Frau musste sie sein, dass sie Derartiges |52| billigte und sogar aktiv daran mitwirkte? War sie eine Chimäre? Ein Feuer speiendes Reptil, eine Schlange mit dem Körper eines
Löwen, dem zweiten Kopf einer Antilope? Wenn ich dieses tückische Monster töten könnte – wie in der Mythologie –, indem ich
ihm einen Klumpen Blei in den Rachen stopfte, dass er schmelzen möge in der Glut des feurigen Atems, dann täte ich es sofort.
Wie sehr sich doch ihrer beider Akeru von dem Schloss Talcilla unterscheidet, das Talbot und ich gemeinsam schufen. Oder existiert
Talcilla nur in meiner Einbildung? Ist es ein Ritual, eine Übereinkunft, ein Abwehrmechanismus, ein Mittel, instinktive Impulse
so zu verwandeln, dass sie ihren Ausdruck auf angemessene Weise finden – eine Standardmethode der Kontrolle, bei der Impulse
und Instinkte sozusagen gezähmt werden und sich symbolisch ausdrücken dürfen, so dass die Welt sie respektiert? Welches Schloss
ist real? Ich zermartere mich – lag es daran, dass Talbot eine ungewöhnliche Bandbreite an Qualitäten besaß, eher als nur
eine ganz besondere Eigenschaft? Waren die Spannung zwischen diesen Gegensätzen und das Bedürfnis, diese Spannung zu lösen,
die Triebkräfte, die ihn dazu brachten, die REGELN aufzustellen – Akeru – und eine Königin für sein Reich zu suchen? Mein
Geliebter, verzaubert in einen Minotaurus mit dem Kopf eines Stiers auf dem Körper eines Mannes, alles verschlingend, ob Mensch
oder Ding, da er in einem Paradies lebt mit dieser Person Bee. Sie als seine Muse, nicht
ich
, sie ist es, die seinen kreativen |53| Geist in Beschlag nimmt, die seinen Körper und Verstand in Wonnen lullt, während es mich – verlassen in einem Labyrinth aus
Pein und Qual – schier zerreißt und die beiden sich gütlich tun an meinem blutenden Herzen. Wie kann ich nicht leugnen, dass
sie die wahre Gattin ist – nicht ich. Ihr ist er kein Minotaurus – nein, der geliebte König Jupiter. Und Talcilla ist nicht
das Signum – nein, Akeru. Oh, welche Bitterkeit – welch ein Verrat! Mit welchen Dingen mochte er sie umgeben haben? Hatte
er darauf bestanden, ihre Kleider auszuwählen, den Schmuck, den sie trug, so wie bei mir? Ich muss aufhören, oder ich werde
wahnsinnig.
Priscilla fiel in Tiefschlaf, und als sie erwachte, sah sie die Pillen, benommen und in einem Anflug von – Hoffnung? Neugier?
Träumend,
Weitere Kostenlose Bücher