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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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diese Möglichkeit gibt. Zwar sprach Vater Jacwb – er war Seelsorger auf meiner Heimatinsel in Gwynedd – oft von der hohen Wertschätzung, welche Jesus den Frauen entgegenbrachte; ebenso erwähnte er gelegentlich Presbyterinnen, die sich Verdienste um das Christentum erworben hatten – aber von Priesterehepaaren redete er nie.«
    »Vielleicht deswegen, weil der Weg, den wir eingeschlagen haben, tatsächlich etwas ungewöhnlich ist und der gute Jacwb ihn nicht kannte«, sagte Saray. »Doch im Widerspruch zur Lehre des Galiläers steht unsere Art der Glaubensverkündigung keineswegs, denn Jesus rief alle Menschen guten Willens ohne Unterschied ihres Geschlechts oder Familienstandes dazu auf, seine Botschaft weiterzugeben.«
    »Dies war ausnehmend weise von ihm!« ließ sich Dyara in weihevollem Tonfall vernehmen – und fuhr mit verschmitztem Gesichtsausdruck fort: »Aber ebenso klug handelte sein Großonkel Jussuf von Arimathea, als er den Dornbaum auf der Insel von Avalon pflanzte. Hätte er es nämlich nicht getan, könnten wir unserer Freundin jetzt dieses einzigartige Gewächs nicht zeigen, und sie wäre dann fürchterlich enttäuscht …«
    »Laß Danyell und Saray doch erst ihre Arbeit beenden«, verwahrte sich Branwyn, welcher der Wink mit dem Zaunpfahl peinlich war. »Oder noch besser, wir helfen ihnen dabei.«
    »Da ich Dyaras handwerkliches Geschick leider kenne, halte ich das für keine gute Idee«, wehrte Danyell grinsend ab. »Außerdem sind wir sowieso fast fertig. – Schaut ihr euch also ruhig schon mal den Heiligen Dorn an, wir kommen dann gleich nach.«
    Die Freundinnen befolgten den Rat, gingen wieder nach draußen und sodann zur gegenüberliegenden Seite der Kirche, wo die Birkengruppe stand, deren Wipfel das Dach überragten. Wie Branwyn bereits vermutet hatte, bildeten die neun weißrindigen Bäume einen kleinen kreisförmigen Hain, und als sie ihn betraten, erblickte sie genau in der Mitte des rasenbewachsenen Rundes die fremdartige Pflanze.
    Der Dornbaum war nicht besonders groß, höchstens zehn Ellen, dennoch wirkte er äußerst eindrucksvoll. Das hohe Alter schien seinen knorrigen Stamm und die rissige, da und dort gesprungene Rinde mit dunkler Patina gefärbt zu haben. Die spärlich belaubten Äste und Zweige, auf denen die nadelscharfen Auswüchse saßen, waren wie unter der Last der Jahrhunderte gebeugt und verkrümmt, teilweise hatten sie sich skurril verflochten. Dies war jedoch nur das äußerliche Erscheinungsbild; jenseits des Sichtbaren erspürte Branwyn das grenzenlose Weben der Zeit, welches sich mit dieser ehrwürdigen Pflanze verbunden hatte: das andersweltliche Pulsen und Schwingen, das die Brücke aus ferner Vergangenheit herauf in die Gegenwart schlug.
    Still betrachtete die junge Frau den Heiligen Dorn. Auch Dyara blieb stumm; erst als sie fühlte, daß ihre Freundin nun die letzten paar Schritte zurücklegen wollte, flüsterte sie: »Ja, berühre ihn. Nimm seinen Geist in dich auf …«
    Gleich darauf tasteten Branwyns Fingerspitzen über die fast schwarze Stammrinde, glitten höher, folgten der Linie eines der beinahe ornamental verformten Äste und liebkosten zuletzt einen Zweig. Die Augen der jungen Frau waren dabei geschlossen; als sie ein lautloses Raunen vernahm, bewegte sie ihre Arme langsam wieder nach unten und umschlang den Baum. Mit ihrem ganzen Körper drückte sie sich an ihn, und jetzt strömte die von Ewigkeit zu Ewigkeit reichende Kraft der Göttin in sie. Tief aus der Erde stieg die Macht empor, erfüllte ihr Bewußtsein und verband in derselben, nicht meßbaren Zeitspanne ihr Innerstes mit dem Wesen jener Menschen, die vor mehr als drei Jahrhunderten hier an diesem Ort geweilt hatten, um zusammen mit den Druidinnen der Ynys Avallach das Ritual zu vollziehen.
    Sie glaubte, die olivfarbenen Gesichter und dunklen Augen der Juden vor sich zu sehen und den fremdartigen, aber trotzdem irgendwie vertrauten Klang ihrer Stimmen zu hören. Einer der Orientalen, der starke natürliche Autorität ausstrahlte, stand im besten Alter; soeben sagte er etwas zu dem Jüngling oder jungen Mann an seiner Seite – und dessen Gestalt faszinierte Branwyn noch mehr als die des Älteren. Sie bemühte sich, sein Antlitz deutlicher zu erkennen; für einen Moment meinte sie, es würde ihr gelingen, doch dann verwich die Vision.
    Gedämpfte Stimmen, die von der Kirche her ertönten, brachten die junge Frau in die Realität des sonnigen Sommertages zurück. Als sie sich

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