Die Bischöfin von Rom
der Ynys Avallach zeigen, die sie bislang noch nicht kannte.
Der Dornbaum
Im frischen Morgenwind standen die beiden jungen Frauen auf dem Twr neben dem Menhir. Soeben hatte Dyara, die heute ernster als am Vortag wirkte, ihrer Begleiterin dargelegt, was sie über das Geheimnis der Felsspalte wußte, die sich hart neben dem Sockel des Hohen Steins öffnete. Nun setzte sie hinzu: »Mehr darüber wirst du an Samhain erfahren, sofern Bendigeida dich einlädt, uns in das Reich von Annwn zu begleiten. Doch bis zu jener Herbstnacht werden noch beinahe fünf Monate verstreichen, erst dann öffnen sich die Pforten zur Anderswelt …«
Branwyn verspürte einen leichten Schauder; unwillkürlich trat sie einen Schritt von der Kluft zurück, die scheinbar in bodenlose Tiefe führte, und antwortete: »Vorerst gebe ich mich gerne damit zufrieden, die anderen Orte aufzusuchen, von denen du mir berichtet hast. Zum Beispiel den Platz, wo der Dornbaum wächst, welcher den Überlieferungen nach zu jener Zeit gepflanzt worden sein soll, als Jesus auf der Insel von Avalon weilte.«
»Wenn wir dorthin gehen, kommen wir nochmals nahe an der Heiligen Quelle vorbei, aus der wir vorhin nur einen stärkenden Trunk nahmen, um so schnell wie möglich auf den Twr zu gelangen«, erwiderte Dyara. »Da aber auch sie mit dem Galiläer zu tun hat, sollten wir uns jetzt vielleicht ein wenig länger dort aufhalten, damit ich dich auf das einstimmen kann, was du später in der christlichen Ansiedlung der Ynys Avallach sehen wirst.«
Branwyn war einverstanden; gleich darauf stiegen die beiden jungen Frauen wieder ins Tal hinunter und folgten sodann dem Pfad, den sie auf dem Herweg genommen hatten. Bald tauchte der von Haseln und Birken umstandene Born vor ihnen auf, und sie ließen sich unter einem der weißrindigen Bäume nieder.
»Ehe ich über Jesus spreche, der vor rund dreieinhalb Jahrhunderten als junger Mann zu diesem Heiligtum kam, sollst du einiges über die Geschichte der Quelle aus den Jahrtausenden zuvor hören«, begann Dyara. »Hier nämlich befinden wir uns an einem Ort, an dem die Kraft der Großen Göttin seit Urzeiten erkannt wird. Schon lange bevor die ersten Kelten an den Küsten Britanniens landeten, trafen sich die Menschen an diesem Born: am Anfang Angehörige jener Stämme, welche mit großer Meisterschaft den Stein zu bearbeiten wußten und die ersten Menhire, Steinkreise und Dolmen des Landes errichteten; später solche, die Schmuck und Waffen aus Bronze trugen sowie mächtige Grabhügel aufschütteten; nach ihnen jene, welche die Asche ihrer Toten in Urnen bestatteten. Sie alle wußten um die Liebe der Großen Mutter und die Fülle des Lebens, die unerschöpflich ihrem Schoß entspringt; allen war der Platz, an dem das rötliche Wasser aus der Erde strömt, heilig. Zudem fanden hier von Menschenalter zu Menschenalter sehr viele Hilfesuchende Linderung ihrer körperlichen oder seelischen Leiden, und seit nunmehr beinahe neun Jahrhunderten wird dieses Erbe von den Druidinnen der Ynys Avallach gehütet.«
Dyara wies auf die steinerne Auffangschale, in die das Quellwasser sprudelte. »Das Becken ist so alt wie unsere keltischen Rituale in diesem Land; es wurde von denselben weisen Frauen hierher gebracht, die den ersten Apfelhain von Avalon pflanzten und den Spiralweg hinauf zum Twr anlegten. Dann, nachdem dieser spirituelle Pfad bereits ein halbes Jahrtausend begangen worden war, kam eines Tages eine Gruppe von Juden nach Avalon. Sie wurde angeführt von einem Handelsherrn namens Jussuf von Arimathea, und bei ihnen war der etwa achtzehnjährige Jeschu oder Jesus, wie die Römer ihn nennen.«
»Du weißt offenbar sehr gut über ihn und seine Begleiter Bescheid«, warf Branwyn ein.
»Die Erinnerungen an jenen Besuch wurden sorgfältig bewahrt«, erwiderte Dyara. »Zum einen, weil jener Jussuf eine außergewöhnliche Persönlichkeit war und in seiner Heimat als Mitglied des Hohen Rates im Adelsrang stand; mehr aber noch wegen der Ausstrahlung seines Großneffen Jeschu, der zweifellos von den Göttern gesegnet war. Er besaß, so heißt es über ihn, trotz seines beinahe noch jugendlichen Alters geistige Stärke und Herzenswärme, wie die meisten Menschen sie niemals erlangen, und einen Beweis dafür legte er an diesem Born ab.
Kaum nämlich waren er und seine Landsleute auf der Ynys Avallach gelandet, fand er mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg hierher und suchte in tiefer Versenkung den Einklang mit der andersweltlichen
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