Die Bischöfin von Rom
sanft vom Baumstamm löste und den Kopf wandte, wurde sie gewahr, daß Saray und Danyell sich näherten. Hand in Hand kam das Priesterehepaar heran; Saray musterte Branwyn aufmerksam und stellte fest: »Du hast offenbar schon Freundschaft mit dem Heiligen Dorn geschlossen.«
Kurz, weil auch Dyara sie fragend anblickte, war Branwyn versucht, von den Bildern zu erzählen, die sie in ihrer Trance erschaut hatte. Mit dem nächsten Lidschlag aber warnte etwas sie davor, das, was eben erst in ihr zu keimen begonnen hatte, durch ärmliche Worte einzuengen; deshalb erwiderte sie lediglich: »Er ist wahrhaft heilig!«
»Und warum das so ist, wirst du verstehen, wenn du seine Geschichte erfährst …« Damit setzte Danyell sich ins Gras unter der Baumkrone; nachdem die anderen es ihm gleichgetan hatten, erkundigte er sich bei Dyara: »Wie weit hast du deine Freundin bereits eingeweiht?«
»Auf dem Weg hierher erzählte ich ihr vom Besuch des jüdischen Adligen Jussuf von Arimathea und seines Großneffen Jeschu auf der Insel von Avalon«, antwortete die junge Druidin. »Ferner sagte ich ihr, daß ein gemeinsames Baumritual stattfand, bevor die Hebräer, die sich mit den weisen Frauen des Apfelgartens angefreundet hatten, wieder abreisten.«
»Gemeinsamkeit, das ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was sich in jenen Tagen vor knapp dreieinhalb Jahrhunderten auf der Ynys Avallach abspielte«, nickte der christliche Priester. »Zusammen gingen Kelten und Juden ein Stück des Weges, der zur Erkenntnis des Göttlichen führt. Die Druidinnen taten es im Wissen um die ewige Existenz und grenzenlose Großherzigkeit Ceridwens; die Hebräer im Glauben an Adonai: das Ewige, wie sie den allumfassenden und gütigen Geist Gottes bezeichnen. Lächelnd begegneten sich die Dreifache Göttin und Adonai; auf diese Weise wurde ein Band der Menschlichkeit zwischen Britannien und Judäa geknüpft – und weil die Erinnerung daran im Gedächtnis der Bewohner dieser Insel greifbar fortbestehen sollte, pflanzten Hebräer und Kelten in der Mittsommernacht des elften Jahres der christlichen Zeitrechnung den Hain, in dem wir uns befinden …«
»Ich dachte, ihr zählt die Zeit vom Geburtsjahr Jesu an«, unterbrach Branwyn. »Da Dyara mir aber mitteilte, er sei etwa achtzehn gewesen, als er auf der Ynys Avallach weilte, müßte sich das alles doch in diesem Jahr eurer Zeitrechnung zugetragen haben.«
»Die ursprüngliche Zählweise, die auf jüdische Überlieferungen zurückgeht, wurde von der römischen Kirche verfälscht«, erklärte Saray mit bitterem Unterton. »Es geschah vor zweiundvierzig Jahren, als die führende Priesterschaft Roms die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion durchsetzte und sich zu diesem Zweck mit dem Kaisertum verbündete. Damals wurde das Geburtsjahr Jesu, weil die wahren Umstände am Sitz des römischen Patriarchats nicht mehr genau bekannt waren, so gut wie möglich geschätzt und der Kalender danach ausgerichtet. Wir Getauften von Avalon jedoch, die wir präzise Aufzeichnungen besitzen, wissen es besser: Jeschu, der Großneffe des Jussuf von Arimathea, wurde sieben Jahre vor Beginn der fehlerhaften römisch-christlichen Zeitrechnung geboren; er kam infolgedessen in ihrem elften Jahr auf die Insel von Avalon.«
»In der Mittsommernacht vor dreihundertvierundvierzig Jahren also versammelte man sich an dieser Stelle, die zu jener Zeit noch auf freiem Feld lag, um das Baumritual zu begehen«, nahm Danyell den Faden seiner Geschichte wieder auf. »Gemeinsam hatten die Druidinnen und ihre hebräischen Freunde den besonderen Platz hier ausgesucht, wo starke Erdkräfte sich vereinigen; nun wurden an den Knotenpunkten der unterirdischen Ströme die Gruben gegraben, welche das Wurzelwerk der jungen Bäume aufnehmen sollten. Zuerst, während die weisen Frauen die Dreifache Göttin anriefen, pflanzte man den Ring der neun Birken; anschließend beteten die jüdischen Männer zu ihrer Gottheit, und Jussuf von Arimathea setzte den ihnen heiligen Dornbaumschößling in die Mitte des Kreises.«
»So wurden weibliches und männliches, aber auch keltisches und hebräisches Wesen im Geiste Ceridwens und des Adonai verbunden«, kam es von Branwyn. »Das verstehe ich – doch warum besitzt gerade der Dornbaum so große Bedeutung für die Juden?«
»Weil aus einer solchen, von göttlichem Feuer umhüllten Pflanze heraus die Stimme Adonais zu Moses, dem Begründer ihrer Religion, sprach«, klärte abermals Saray sie auf.
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