Die blaue Liste
Dengler.
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»Ich möchte zu Herrn Hans-Jörg Mittler.«
Das Bankgebäude, in dem Mittler arbeitete, liegt am Ende der Fritz-Elsas-Straße, schon in Sichtnähe zur Liederhalle. Der moderne
Gebäudekomplex beherbergt im Erdgeschoss das italienische Restaurant Fellini und in einem Seitenflügel das Kino am Bollwerk, Stuttgarts bestes Lichtspielhaus. Wahrzeichen des Komplexes ist die große Glaswand, die von der mittleren Höhe des Bürohauses
aus schräg in den Innenhof abfällt, der aus einem quadratisch eingefassten Teich besteht.
»Haben Sie einen Termin?«
»Ja.«
»Melden Sie sich bitte im Zimmer 402. Der Fahrstuhl ist um die Ecke.«
Zimmer 402 erwies sich als Sekretariat. Eine junge Frau, kaum älter als zwanzig, fragte ihn mit unerträglicher Viva-Moderatorinnenstimme
nach seinen Wünschen.
»Ich suche Hans-Jörg Mittler.«
»Herr Mittler ist in einer Besprechung. Um was geht's denn?«
»Sagen Sie ihm, dass ich auf ihn warte. Mein Name ist Georg Dengler. Und«, er fixierte das Mädchen, »sagen Sie es ihm am besten
gleich.«
Der Ton in Denglers Stimme veranlasste die junge Frau, sich sofort auf den Weg zu machen. Nach zwei Minuten kehrte sie zurück,
Mittler kam hinter ihr zur Tür herein.
»Ach, der Herr Dengler. Das ist ja gut, dass Sie wieder da sind. Wo ist Christiane?«
»Können wir uns allein unterhalten?«
»Sicher, kommen Sie mit in mein Büro.«
Er öffnete eine Tür, ließ Dengler eintreten und schloss sie hinter sich.
Er ging zu seinem Schreibtisch.»Wem haben Sie erzählt, dass ich Christianes Vater gefunden habe?«
»Bitte?«
»Wem?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Sie verstehen ganz genau. Sie haben irgendjemandem erzählt, dass ich Christianes Vater gefunden habe. Christiane wurde beschattet
und die Männer, die ihr folgten, haben versucht, Christiane, mich und ihren Vater umzubringen.«
Mittler starrte Dengler entgeistert an.
»Das kann doch nicht wahr sein«, sagte er.
»Doch. Wem haben Sie davon erzählt?«
»Dengler, ich versichere Ihnen, niemals habe ich ...« Es war genug. Dengler fasste blitzschnell Mittlers rechtes Ohr und zog
ihn vom Stuhl. Der Banker schrie auf. Dengler riss ihn am Krawattenknoten wieder hoch. Er sah, dass genau unterhalb von Mittlers
Fenster die schräge Glasfläche begann, die unten im Wasser endete. Mit der rechten Hand öffnete er das Fenster und zog Mittler
mit der Linken am Schlips zu sich heran. Er drehte ihn so um, dass er aus dem Fenster sah.
Mittler keuchte.
»Wem?«
»Niemand. Wirklich!«
Dengler bückte sich blitzschnell, packte mit dem rechten Arm Mittlers Beine in Höhe der Kniekehlen, mit dem linken Arm umfasste
er Mittlers Leib und wuchtete seinen Körper auf den Fensterrahmen, sodass Mittler nun bäuchlings auf dem Fensterrahmen lag.
Er ruderte mit den Armen, trat verzweifelt strampelnd mit den Beinen nach hinten aus, doch Dengler stand längst links neben
ihm, sodass ihn die Tritte nicht trafen, und schob Mittlers Körper mit beiden Händen an Kragen und Hosengürtel hinaus. Als
Mittler bereits die Scheibe hinabzurutschen drohte, fasste Dengler ihn am Jackettkragen. Mittlers Schreie gingen in ein Röcheln
über. Unten auf dem Gehweg blieben die ersten Passanten stehenund deuteten mit dem Finger auf Mittler, der bäuchlings, immer noch mit den Armen rudernd auf der Glasscheibe lag, nur noch
von Georg am Kragen gehalten.
»Wem?«
»Dengler, sind Sie verrückt geworden?«
»Auf mich wurde geschossen, Mittler.«
Er ließ eine Hand los. Der Stoff von Mittlers Jackett knirschte und riss unter seinem Ärmel.
»Wem?«
»Dr. Malik. Kurz nachdem Sie in Berlin bei den ehemaligen Treuhand-Leuten recherchiert haben, musste ich zu ihm. Er bat mich,
ihm jeden Fortschritt Ihrer Ermittlungen mitzuteilen. Mehr war nicht, Dengler – ziehen Sie mich um Gottes willen wieder hoch!«
»Wer ist Dr. Malik?«
»Der Vorstandsvorsitzende der Bank hier.«
»Und Christiane haben Sie nichts davon gesagt?«
»Nein, ich musste unterschreiben, dass ich niemandem, nicht einmal Christiane etwas davon sagen würde. Dengler, ich ahnte
nicht...«
»Arschloch.«
»Nein, das heißt doch, ja, bin ich. Ganz wie Sie wollen ...« Georg Dengler ließ ihn los. Er sah noch, wie Mittler kopfüber
und langsam die riesige Scheibe hinunterrutschte. Das Aufklatschen Mittlers im Teich hörte er nicht mehr.
Dann schloss er das Fenster; klopfte sich die Hände ab und ging ins Vorzimmer zurück. Die Sekretärin
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