Die blaue Liste
schuld an dem Tod von zweihundertunddreiundzwanzig Menschen – fast aller meiner Kollegen, viele, die mir nahe waren wie Brüder.«Er stand auf und ging zu seinem Koffer, der noch unausgepackt auf dem Bett lag. Er öffnete die Schnappverschlüsse und zog
aus einer Innentasche ein kleines zerfleddertes Buch heraus.
»Das ist ein Erinnerungsband von Lauda«, sagte er und fuchtelte mit dem schmalen Bändchen in der Luft herum. Es hatte einen
roten Umschlag, auf dem Dengler trotz Steins Gefuchtel das Gesicht des ehemaligen Rennfahrers erkennen konnte.
Stein blätterte nervös in den Seiten.
»Hier«, rief er dann, »ich hab's gefunden.«
Er zog das Buch heran und las vor:
»Neun Monate nach dem Unfall wurde das Richtungskontrollventil gefunden und gegen Belohnung abgegeben. Es wurde unter allen
Sicherheitsvorkehrungen nach Seattle gebracht und dort unter Aufsicht von NTSB- und FAA-Leuten untersucht. Vor dem Auseinandernehmen
der Teile wurde das Ventil in Computer-Tomographie erfasst. ... Beim Auseinandernehmen stellte sich allerdings heraus, dass
das Ding schon vorher geöffnet und daran manipuliert worden war. Es gab keine Erklärung dafür, aber keiner maß der Sache große
Bedeutung zu.« Stein klappte das Buch wieder zu und verstaute es in seinem Koffer.
»Ich maß der Sache große Bedeutung zu«, sagte er, »nicht eine Sekunde glaubte ich an einen Unfall.«
»Was hat das alles mit eurem Institut in Innsbruck zu tun?«, fragte Christiane sanft.
»Wir in unserem Institut in Innsbruck glaubten, die Lösung für den Transformationsprozess Ostdeutschlands zu einer Marktwirtschaft
gefunden zu haben. Nur ein paar Kilometer vor unserer Tür, in Matrei am Brenner, steht eine kleine Fabrik, die nach dem Krieg
von den Arbeitern übernommen wurde. Sie gründeten eine Produktivgenossenschaft. Das Werk wurde nach dem Krieg unter unglaublichen
Entbehrungen der Beschäftigten aufgebaut, sie konnten sich oft keine oder nur kleine Löhne auszahlen. Bekamen keineKredite. Mussten sich die Werkzeugmaschinen selber bauen oder die Maschinen ausleihen.
Alle diese Entbehrungen konnten sie nur auf sich nehmen, weil die Fabrik ihr Eigentum war. Das ist der Schlüssel ihres Erfolgs.
Denn irgendwann schafften sie es. Heute sind sie Marktführer in ihrer Branche. Ein Betrieb mit den meisten Innovationen, jeder
trägt zum Erfolg bei. Da niemand die Gewinne abschöpft, investieren sie mehr als normale Unternehmen, und es ist der Betrieb
mit den besten Sozialleistungen – wahrscheinlich in ganz Mitteleuropa.«
Stein schwieg erschöpft und fuhr dann fort: »Wir glaubten an dieses Modell. Wir sahen in ihm die Verwirklichung der katholischen
Soziallehre. Kapital und Arbeit – nicht mehr feindlich geteilt. Die Arbeit – nicht mehr ausgebeutet. Und das Wunderbarste
war – es funktioniert.«
Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Wir schrieben viele Aufsätze über das Werk. Aber es interessierte niemanden. Dann löste sich die DDR auf, und wir sahen in
unserem kleinen Modell ein Elixier, das Deutschland helfen konnte, die Wiedervereinigung erfolgreich und würdevoll zu bewerkstelligen.
Unser Institutsleiter nahm Kontakt zu den führenden Stellen der Treuhand auf. Der damalige Präsident hatte ein offenes Ohr
für Professor Anders, unseren Institutsleiter. Sie trafen sich.
Der Präsident hatte eine Vision für die neuen Bundesländer. Er wollte die Betriebe sanieren, Arbeitsplätze erhalten und verhindern,
dass Zehntausende ihre Heimat verlassen mussten.
Er wusste, dass der Osten viel Geld kosten würde: Die SED investierte schon lange nichts mehr in ihre Kombinate. Sie auf Vordermann
zu bringen, würde Geld kosten. Und so wollte der Präsident die Ostfirmen mit Staatsbeteiligungen ausstatten, sie sanieren.
Die Betriebe sollten ihre angestammten ökonomischen Verbindungen mit den Nachbarländern des Ostens, Tschechien, Russland,
den baltischenStaaten erhalten und ausbauen. Und wenn die Sanierung abgeschlossen wäre, hätte Deutschland eine mächtige Bastion in diesen
Ländern.«
Stein lehnte sich zurück.
»Das war ein guter Plan«, sagte er. »Und unsere Vorschläge ergänzten ihn. Es war das fehlende Teilstück. Schließlich gehörten
die Betriebe den Bürgern der ehemaligen DDR – zumindest auf dem Papier.«
Sie tranken einen Schluck Rotwein und hörten Stein weiter zu.
»Rohwedders Plan war richtig, aber nicht überall beliebt. Hinter seinem Rücken sammelten sich
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