Die blaue Liste
Gesinnung keineswegs, aber erbestritt vehement die Beteiligung an den Attentaten. Man ließ ihn reden, aber Georg spürte, das Gericht hörte ihm nicht mehr
zu.
Plötzlich wusste Dengler, dass seine sportliche Phase vorbei war. Er war nicht länger der einsame Kämpfer für Gerechtigkeit,
in den er sich manchmal hineinfantasierte.
Sicher, sein Opfer war zur Strecke gebracht. Doch was geschah mit dem Wild, wenn der Jäger es erlegt hatte? Dann folgten die,
die ihm das Fell abziehen, die große Stunde der Handwerker, der Metzger und Abdecker. Gestern, so schien es Dengler, hatte
er ihnen für einen Tag bei der Arbeit zugeschaut.
Ihm war schlecht, als er die ersten Buchstaben in den Computer tippte.
* * *
Dr. Schweikert nahm die beiden Blätter seiner dienstlichen Erklärung schweigend entgegen. Dengler glaubte, ein kleines Lächeln
versteckt in seinen Mundwinkeln gesehen zu haben.
Dann hörte er mehrere Wochen nichts mehr von seiner Erklärung. Er nahm an einem Computerlehrgang über die Überwachung von
E-Mails und fremden Rechnern teil. Zu seiner Überraschung schien dies einfacher zu sein, als er angenommen hatte. Der Referent
stellte gerade die Version 5 der Software Look That vor, als ihn Marlies anrief, die rothaarige Sekretärin von Dr. Scheuerle.
»Heute Abend hast du noch einen dienstlichen Termin. Du bist hiermit zur Verabschiedung von Dr. Kleiner eingeladen«, sagte
sie.
Dengler unterbrach sie: »Ich kann heute wirklich nicht, ich habe Hildegard versprochen ...«
»Georg, keine Ausflüchte. Das ist eine dienstlicheAnweisung. Scheuerle will mit dir reden. Es scheint wichtig zu sein. Sei um acht drüben im Kasino.«
»Marlies, was soll ich dort? Du weißt, wie ich offizielle Anlässe ...«
»Quatsch, Scheuerle hat deine Anwesenheit extra angeordnet. Also zieh dich hübsch an, sei pünktlich und erzähl mir morgen,
wie das Essen war.«
Dengler seufzte und legte auf.
Es ging los.
* * *
Zur Verabschiedung von Dr. Kleiner hatte das Personal den hinteren Teil des Kasinos geräumt. Die Veranstaltung verlief farblos
und beschämend routiniert. Der Chef des BKA sprach ein paar launige Worte, Dr. Scheuerle bedankte sich für die gute Zusammenarbeit,
und zwei Kollegen, die Dengler nicht kannte, sprachen ebenfalls. Dr. Kleiner war der Einzige, der der Feier seiner Verabschiedung
eine persönliche Note gab. Er erzählte von den Fehlern der Software, die aufgrund eines mit den Landeskriminalämtern in einem
mehrmonatigen Arbeitskreis erarbeiteten Kriterienkataloges die gesamte deutsche Bevölkerung für terrorismusanfällig erklärte.
Also auch uns, meine Herren, sagte Kleiner, aber wer sollte uns festnehmen? Allgemeines Schmunzeln, und Kleiner berichtete
von den folgenden Sitzungen, auf denen die Kriminalisten unwillig die Rasterkriterien entschärfen mussten, um zu halbwegs
akzeptablen Ergebnissen zu kommen. Langsam schien sich die Atmosphäre zu lockern, und doch spürte Dengler an der verkniffenen
Heiterkeit der Chefs, ihren verstohlenen Blicken auf die Uhr, wie erleichtert sie waren, endlich einen weiteren Veteranen
aus der Herold-Zeit loszuwerden.
Dengler stand mit einem Glas Rüdesheimer Burgweg ineiner Ecke, hörte den Rednern zu und langweilte sich. Er wunderte sich wieder einmal über den hässlichen blaugrauen Wandteppich,
der die Wände des Kasinos verunstaltete, und er war froh, als der Chef endlich das Büfett eröffnete. Er wartete nur wenige
Minuten, bis er sich in die Schlange einreihte. Plötzlich stand Dr. Scheuerle neben ihm und legte einen Arm um ihn.
»Dengler, Sie sind ja auch da«, rief er, als sei er überrascht, ihn hier anzutreffen. »Das trifft sich gut. Ich wollte etwas
mit Ihnen bereden.«
Sein rechter Arm drückte Dengler aus der Reihe der hungrigen Beamten.
»Ich wollte mit Ihnen reden, lieber Herr Dengler«, wiederholte Scheuerle und lenkte ihn auf die Ausgangstür des Saales zu.
Dengler balancierte in der rechten Hand immer noch das Weinglas mit dem Rüdesheimer Burgweg. Sie erreichten die Tür, ohne
dass er den Wein verschüttete.
Sie betraten den Flur, und Scheuerle öffnete die Tür zu einem benachbarten Seminarraum. Scheuerle schloss die Tür vorsichtig
hinter ihnen.
Acht Tische waren zu einem großen U zusammengestellt. Vorne standen das unvermeidliche Flipchart und eine große weiße Tafel.
Scheuerle ließ sich auf einen Stuhl am vordersten Tisch fallen. Dengler setzte sich ihm gegenüber und war froh, das
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