Die blaue Liste
Stammheim.«
»Ihre Anhaltspunkte?«
»Wissen Sie«, Dengler zögerte, »ich kenne Greschbach, als wäre er mein eigener Bruder – obwohl ich ihn bei der Festnahme in
London das erste Mal sah.«
Dr. Schweikert schwieg.
»Er ist unpraktisch«, sagte Dengler, »er kann nicht schweißen. Er hat zwei linke Hände. Die Qualität der Schweißnähte an den
Behältern, die wir gefunden oder rekonstruiert haben, war erstklassig. Das muss man üben. Niemand kann das nebenbei machen.
Schweißer ist ein Lehrberuf.«
Er macht eine kleine Pause.
»Greschbach hatte in Physik eine Vier, seine schlechteste Abiturnote. Er studierte Geisteswissenschaften. Wir wissen, dass
er nicht einmal einen Fahrradschlauch selbst reparieren konnte. Das machte seine Schwester und später seine Freundin. Der
einzige Zeitraum, den ich in seinem Leben nicht genau rekonstruieren kann, sind die wenigen Monate, die er in der Illegalität
gelebt hat. Und ich glaube nicht, dass er in dieser Zeit einen Schweißerlehrgang bei einer Volkshochschule belegt hat.«
»Aber er war bei der RAF.«
»Das war er. Er wurde aus der Unterstützerszene des dritten Hungerstreiks rekrutiert. Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung
– klar. Wahrscheinlich war er Quartiermacher, aber eine unmittelbare Beteiligung an den beiden Attentaten – das kann man ausschließen.«Es entstand eine Pause. Dr. Schweikert schob seine Brille hin und her.
»Wie sicher sind Sie sich?«, fragte er dann.
»Zu 95Prozent.«
»Also sicher.«
»So gut wie sicher.«
»Und das wollen Sie in einer dienstlichen Erklärung mitteilen?«
»Ja.«
»Und Sie wollen damit Einfluss auf den Prozess in Stammheim nehmen?«
Dengler nickte.
Schweikert fragte: »Warum?«
»Nennen Sie es Gerechtigkeit.«
Dr. Schweikert nickte, langsam und nachdenklich.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Dengler, ich will Sie nicht davon abhalten, für etwas einzutreten, das Sie für richtig
halten ...«
Er sah Dengler an.
»Im Gegenteil – das macht Sie mir sehr sympathisch. Aber ich möchte, dass Sie die Folgen genau kennen, die Ihre Erklärung
möglicherweise nach sich ziehen wird. Für Sie. Hören Sie also zu und entscheiden Sie dann.«
Als Dengler nickte, fuhr er fort: »Die Beziehungen unserer Behörde zur Bundesanwaltschaft sind gut – und es ist wichtig, dass
sie gut sind. Wenn wir ihre Klageschriften angreifen, werden sie getrübt. Ich glaube nicht, dass man es hier im BKA so weit
kommen lassen wird.«
»Was heißt das?«
»Ihre Erklärung wird zu den Akten gelegt. Und Sie werden für den Prozess niemals eine Aussagegenehmigung bekommen.«
Dengler schwieg.
Schweikert fuhr fort: « Sie sollten auch wissen, dass alle eine Verurteilung in diesem Prozess brauchen. Es geht um Mordund Mordversuch an zwei amerikanischen Generälen. Wenn wir, die Deutschen, den oder die Täter nicht verurteilen, werden die
Amerikaner sich selbst an die Arbeit machen. Daran hat unsere Regierung nicht das geringste Interesse. Und – warum überlassen
Sie das nicht alles der Verteidigung?«
»Ich saß gestern einen Tag lang im Verhandlungssaal in Stammheim. Greschbachs Verteidiger stellten dreiundzwanzig Beweisanträge.
Was glauben Sie, wie viele abgelehnt wurden?«
»Sagen Sie es mir.«
»Alle. Alle dreiundzwanzig wurden abgelehnt. Ich beobachtete den Vorsitzenden Richter, wie er zur Bank der Bundesanwälte hinüberschielte,
bevor er irgendetwas entschied.«
Es entstand eine Pause.
Dann sagte Dr. Schweikert: »Und Sie glauben, Ihre Aufgabe sei es, der Bundesanwaltschaft ein Bein zu stellen?«
»Geht es nicht um die Wahrheit?«
Erneute Gesprächspause.
Schweikert seufzte.
»Sollte es gehen, Dengler, sollte es wirklich gehen.«
Und dann: »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich habe Sie lediglich auf die möglichen Folgen hingewiesen. Und«, er sah
Dengler ernst an, »wie auch immer Sie sich entscheiden: Ich werde Sie unterstützen, soweit ich kann.«
Er hob die Hände und ließ sie wieder in den Schoß fallen.
Die Audienz war beendet.
In seinem Büro im ersten Stock fuhr Dengler den Rechner hoch, lehnte sich zurück und dachte nach.
Der Tag in Stuttgart-Stammheim, die Verhandlung hatte ihn zutiefst aufgewühlt. Sollte er warten, bis er sich beruhigt hatte?
Doch es war kein faires Verfahren. Die Bundesanwälte hatten das große Wort im Verhandlungssaal geführt; das Gericht war ihnen
gefolgt wie eine Herde Lämmer. Greschbach verbarg seine revolutionäre
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