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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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untergebracht.
    Tatsächlich jedoch arbeitete Dr. Schweikert schon über vier Jahre in diesem Büro. Viel lieber hätte er einen Stock höher in
     der Mitte seines Teams gearbeitet, und den entsprechendenUmzugsantrag stellte er halbjährlich mit der gleichen regelmäßigen Beharrlichkeit, mit der Dr. Scheuerle ihn ablehnte. Trotz
     des fragwürdigen Charmes eines ständigen Provisoriums zählte Dr. Schweikerts Büro zu den wenigen Sehenswürdigkeiten auf den
     weitläufigen Fluren des Bundeskriminalamtes. Neu eingestellte Beamte galten erst dann als »richtig« dazugehörig, wenn sie
     es schafften, sich einmal in Schweikerts Büro umzusehen, und sei es nur für eine Minute. Die Klügeren und Mutigen unter den
     Anfängern suchten einen offiziellen Vorwand, um einen Termin bei ihm zu erhalten, oder unternahmen von vornherein einen Antrittsbesuch.
     Andere, weniger Mutige, trieben sich im Erdgeschoss herum, wenn Schweikert nicht im Amt war, und warfen dann scheu einen schnellen
     Blick in sein Büro. Als der Andrang im Erdgeschoss zu einigen Beschwerden führte, setzte das Personalamt einen Antrittsbesuch
     bei Dr. Schweikert offiziell auf den Laufzettel für alle neu eingestellten Beamten. Als Scheuerle schließlich registrierte,
     welchen Kultstatus der ehemalige Abstellraum erlangt hatte, tobte er und überlegte sogar, ob er den nächsten Antrag auf Versetzung
     in den ersten Stock bewilligen sollte. Aber er wollte sich nicht kleinkriegen lassen, und so entwickelte sich Dr. Schweikerts
     Büro ungestört zu einem der wichtigsten informellen Mittelpunkte der Behörde.
    Die eigentliche Hauptattraktion des Raumes war das riesige, zwei mal zwei Meter große Ölbild von Josef Stalin. Es hing direkt
     hinter Schweikerts Schreibtisch, und zwar umgekehrt, als sei es ein Baselitz: Der Kopf des Diktators zeigte auf den Boden,
     als befände er sich im freien Fall. Jeder Besucher, der sich auf den Besuchersessel setzte, sah daher immer den Terrorismusbekämpfer
     und den auf den Kopf gestellten Staatsterroristen zugleich.
    Natürlich kursierten über den umgekehrten Stalin die wildesten Spekulationen. Einfache Gemüter vertraten die Ansicht, das
     Bild zeige den Hauptfeind des Amtes, denBolschewismus, den Kommunismus und überhaupt das Linke an sich, abstürzend unter der Wucht der Verfolgung durch das BKA. Andere
     sahen darin ein Symbol der Enttäuschung durch den Marxismus, denn schließlich sei Dr. Schweikert einer der Letzten aus der
     so genannten »Herold-Periode« des Amtes.
    Horst Herold, SPD-Mitglied, Marx-Kenner und legendärer Präsident des Amtes in der dramatischen Zeit des RAF-Terrorismus, konnte
     spektakuläre und vor allem schnelle Erfolge erzielen. Und Dr. Schweikert war seit dieser Zeit im BKA. Später, als das Amt
     aufgebläht wurde und kaum noch vergleichbare Fahndungsergebnisse erzielte, erinnerte Schweikert durch seine bloße Anwesenheit
     an diese besseren Zeiten des Amtes. Und so wanderte sein Büro in dem langen Flur immer weiter nach hinten, bis Schweikert
     schließlich in dem ehemaligen Materiallager angekommen war. Und erst hier, in diesem Raum, hatte Schweikert den umgekehrten
     Stalin aufgehängt.
    Auf die Bedeutung des Gemäldes angesprochen, zuckte Schweikert stets die Schultern und sagte, es sei halt Kunst. Jeder solle
     sich denken, was er wolle.
    Als Dengler am Tag nach seinem Besuch in Stammheim das Büro seines Vorgesetzten betrat, stand ihm nicht der Sinn nach kunsttheoretischen
     Erörterungen.
    »Ich möchte eine dienstliche Erklärung abgeben.«
    Dr. Schweikert saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte unglücklich in einem Stapel Postmappen. Er sah Dengler über seine
     Brille hinweg an, stand auf und deutete auf die kleine Sitzgruppe an der Wand.
    Wieder einmal wurde Dengler bewusst, wie klein gewachsen sein Vorgesetzter war. Er schätzte ihn kaum größer als einen Meter
     siebzig. Schweikerts Haare waren bereits vollständig grau, und er trug sie um den einen entscheidenden Zentimeter zu lang,
     der sie im Nacken und an der Schläfe eine kleine Welle schlagen ließ. Die große, kantige graue Brille ausstabilem Material. Kariertes Baumwollhemd und braune Strickjacke. Und die unvermeidlichen Cordhosen, dieses Mal eine grüne,
     ausgebeult und an den Knien bereits deutlich heller. »Um was geht es?«, fragte Schweikert.
    »Greschbach kann die Bomben nicht selbst angebracht haben.«
    »Wer behauptet das?«
    »Die Bundesanwaltschaft. Ich komme gerade aus der Verhandlung in

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