Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
Vom Netzwerk:
Weinglas
     abstellen zu können.
    »Ich muss mit Ihnen über Ihre dienstliche Erklärung sprechen«, sagte Scheuerle.
    »Es besteht die Gefahr eines Justizirrtums«, sagte Dengler. Scheuerle starrte Dengler an.
    »Es gibt keine Justizirrtümer in Terroristenprozessen«, sagte er drohend.
    Dengler sagte: »Dann könnte dies der erste Fall werden.«
    »Es gibt keinen Justizirrtum in Terroristenprozessen«, wiederholte Scheuerle.Dengler sagte nichts, sondern wartete ab.
    Einen Augenblick herrschte Stille zwischen den beiden Männern.
    »Sie sind doch katholisch, Dengler, oder?«
    Dengler sah überrascht auf. Scheuerle blickte ihn unverwandt an und schien durch ihn hindurchzusehen.
    Scheuerle hob eine Hand in das Dämmerlicht des Raumes: »Jeden Sonntag geschieht das Wunder. In jedem Gottesdienst. Der Priester
     nimmt die Hostie – und das Brot verwandelt sich in den Leib des Herrn. Der Priester nimmt den Wein – und der Wein verwandelt
     sich in das Blut des Herrn. Dieses Wunder jeden Sonntag, jeden Tag – an unvorstellbar vielen Orten auf der Welt.«
    Aus dem Nebenraum hörte Dengler gedämpfte Rufe, dann Applaus. Scheuerle schien nichts zu hören; er senkte seine Stimme und
     flüsterte fast.
    »Und, Dengler, wissen Sie, warum das Wunder sich immer wieder wiederholen kann?«
    Georg schüttelte den Kopf.
    »Weil der Priester gesalbt ist«, murmelte Scheuerle.
    Seine Augen waren nun geschlossen, als würde er einer inneren Stimme lauschen. Seine Ellbogen stützte er auf den Tisch, und
     das Kinn wurde von den gefalteten Händen gehalten.
    »Vielleicht ist der Priester ein Sünder«, flüstere er weiter, »vielleicht vergreift er sich in der Sakristei sogar an den
     Messdienern. Trotzdem bringt er Sonntag für Sonntag dieses Wunder zustande. Warum? Weil er gesalbt ist.«
    Dengler überlegte, ob Scheuerle ihm Theater vorspielte oder ob er tatsächlich von seiner eigenen Rede ergriffen war.
    Aus dem Nebenraum wehte das schrille Lachen einer Frau herüber. Scheuerle schien es nicht zu hören. Er saß an dem Tisch und
     hielt die Augen immer noch geschlossen.
    Dengler spürte, wie er sich von der beunruhigendenAtmosphäre des Gesprächs anstecken ließ. Er wollte einen klaren Kopf behalten. Das, was Scheuerle von ihm wollte, würde noch
     kommen. Er musste wachsam sein.
    Scheuerle öffnete nun die Augen, als habe er Denglers nachlassende Aufmerksamkeit bemerkt.
    »Sehen Sie, Dengler«, fuhr er mit einer nun heiser werdenden Stimme fort, »so ist es auch vor Gericht. Der höchste Richter
     ist wie ein Priester. Er ist gesalbt. Wenn er ein ›schuldig‹ gesprochen hat, dann ist der Angeklagte schuldig. Nun gibt es
     keinen Zweifel mehr. Ihm bleibt nur noch die Strafe.« Wieder legte er eine Pause ein, um dann fortzufahren: »Jeder, der die
     Hand gegen die Ordnung erhebt, ist schuldig, Dengler.«
    »Ich glaube nicht, dass Greschbach die Bombe angebracht hat«, sagte Dengler.
    Dr. Scheuerle sprang auf und hob die Hände.
    »Sehen Sie denn nicht, dass diese ganze Generation schuldig ist?«, rief er.
    Dengler beobachtete seinen Chef, der sich nun zu ihm herunterbeugte. Sein Atem roch nach Essen und nach Weißwein, Dengler
     zog den Kopf zurück.
    Scheuerle sagte: »Eine ganze Generation verschwor sich gegen die Ordnung. In den siebziger Jahren! Eine ganze Generation.
     Eine ganzeschuldige Generation! Sie war nicht mehr zu retten. Unsere Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Fäulnis nicht auf die
     nachfolgenden Altersgruppen übergriff. Wir haben sie gewarnt. Was glauben Sie, für wen wir die Razzien gemacht haben? Hunderte,
     Tausende von Razzien! Kontrollen an jeder Ausfahrtstraße! Für wen, Dengler, glauben Sie, haben wir das alles gemacht? Jeden
     unter 35 haben wir kontrolliert. Jeder von ihnen musste in die Mündung einer Maschinenpistole sehen. Jeder dieser verdorbenen
     Generation. Jeder von den Jüngeren. Jeder unter 35 sollte mindestens drei Mal spüren, wie das ist, wenn eine Maschinenpistole
     auf ihn gerichtet wird.«Scheuerle ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Er atmete heftig. Plötzlich wandelte sich sein Gesicht in eine blöde Fratze.
     Er grinst, dachte Dengler, so sieht bei ihm ein Grinsen aus. Ihn fror.
    »Und sie haben es ja auch alle begriffen. Wir haben ihnen die Instrumente gezeigt, und sie haben pariert. Es sollte nicht
     ›Deutscher Herbst‹ heißen, sondern ›Deutscher Frühling‹. In einer großen Aktion haben wir, die Polizei, die Gesellschaft gerettet.
     Danach haben sie sich

Weitere Kostenlose Bücher