Die Blechtrommel
sanft schlief die Maus hinter der Wohnungstür. Mein Ohr am Holz hörte sie pfeifen. Klein-Käschen, der eigentlich Retzel hieß, hatte es zum Leutnant gebracht, obgleich er als Kind immer lange, wollene Strümpfe tragen mußte. Schlagers Sohn war tot, Eykes Sohn war tot, Kollins Sohn war tot. Aber der Uhrmacher Laubschad lebte noch und erweckte tote Uhren zum Leben.
Und der alte Heilandt lebte und klopfte immer noch krumme Nägel gerade. Und Frau Schwerwinski war krank, und Herr Schwerwinski war gesund und starb dennoch vor ihr. Und gegenüber im Parterre, wer wohnte da? Da wohnten Alfred und Maria Matzerath und ein fast zweijähriges Bengelchen, Kurt genannt. Und wer verließ da zu nachtschlafender Zeit das große, mühsam atmende Mietshaus? Das war Oskar, Kurtchens Vater. Was -trug er hinaus auf die verdunkelte Straße? Seine Trommel trug er und sein großes Buch, an dem er sich bildete. Warum blieb er zwischen all den verdunkelten, an den Luftschutz glaubenden Häusern vor einem verdunkelten, luftschutzgläubigen Hausstehen? Weil da die Witwe Greff wohnte, der er zwar nicht seine Bildung, aber einige sensible Handfertigkeiten verdankte.
Warum nahm er seine Mütze vor dem schwarzen Haus ab? Weil er des Gemüsehändlers Greff gedachte, der krause Haare hatte und eine Adlernase, der sich aufwog und gleichzeitig erhängte, der als Erhängter immer noch krause Haare, eine Adlernase hatte, aber die braunen Augen, die sonst versonnen in Höhlen lagen, überanstrengt hervortreten ließ. Warum setzte Oskar seine Matrosenmütze mit den fliegenden Bändern wieder auf und stiefelte bemützt davon? Weil er eine Verabredung am Güterbahnhof Langfuhr hatte. Kam er pünktlich am Verabredungsort an? Er kam.
Das heißt, in letzter Minute erreichte ich den Bahndamm nahe der Unterführung Brunshöferweg. Nicht etwa, daß ich mich vor der nahen Praxis des Dr. Hollatz aufgehalten hätte. Zwar verabschiedete ich mich in Gedanken von der Schwester Inge, schickte meine Grüße zur Bäckerwohnung im Kleinhammerweg, machte das aber alles im Gehen ab, und nur das Portal der Herz-Jesu-Kirche nötigte mir jene Rast ab, die mich beinahe hätte zu spät kommen lassen. Das Portal war verschlossen.
Dennoch stellte ich mir allzu genau den nackten, rosa Jesusknaben auf dem linken Oberschenkel der Jungfrau Maria vor. Da war sie wieder, meine arme Mama. Im Beichtstuhl kniete sie, füllte in Hochwürden Wiehnkes Ohr all ihre Kolonialwarenhändlerinsünden ab, wie sie Zucker in blaue Pfund-und Halbpfundtüten abzufüllen pflegte. Oskar aber kniete vor dem linken Seitenaltar, wollte dem Jesusknaben das Trommeln beibringen, und der Bengel trommelte nicht, bot mir kein Wunder. Oskar schwor damals und schwor zum anderen Mal vor dem verschlossenen Kirchenportal: Ich werde ihn noch zum Trommeln bringen. Wenn nicht heute, dann morgen!
Weil ich jedoch die lange Reise vorhatte, schwor ich auf übermorgen, zeigte dem Kirchenportal meinen Trommlerrücken, war gewiß, daß mir Jesus nicht verlorenging, kletterte neben der Unterführung am Bahndamm hoch, verlor dabei etwas Goethe und Rasputin, brachte dennoch den größten Teil meines Bildungsgutes auf den Damm, zwischen die Schienen, stolperte noch einen Steinwurf weit über Schwellen und Schotter und rannte den auf mich wartenden Bebra beinahe um, so dunkel war es.
»Da ist ja unser Blechvirtuos!« rief der Hauptmann und Musikalclown. Dann geboten wir uns gegenseitig Vorsicht, tasteten uns über Gleise, Kreuzungen, verirrten uns zwischen rangierenden Güterwagen und fanden endlich den Fronturlauberzug, dem man ein Sonderabteil für Bebras Fronttheater eingeräumt hatte.
Oskar hatte schon manche Straßenbahnfahrt hinter sich, und nun sollte er auch mit der Eisenbahn fahren. Als Bebra mich in das Abteil schob, blickte die Raguna von irgendeiner Nadelarbeit auf, lächelte und küßte mir lächelnd die Wange. Immer noch lächelnd, dabei die Finger nicht von der Nadelarbeit lassend, stellte sie mir die beiden restlichen Mitglieder des Fronttheaterensembles vor: die Akrobaten Felix und Kitty. Die honigblonde, ein wenig grauhäutige Kitty war nicht ohne Liebreiz und mochte etwa die Größe der Signora haben. Ihr leichtes Sächseln vermehrte noch ihren Charme. Der Akrobat Felix war wohl der Längste der Theatertruppe. Gut und gerne maß er seine hundertachtunddreißig Zentimeter. Der Ärmste litt unter seinen auffallenden Ausmaßen. Das Erscheinen meiner vierundneunzig Zentimeter nährte noch den Komplex. Auch
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