Die Blechtrommel
Aktionen. Deshalb wandte meine Aufmerksamkeit sich wieder dem Prozeß zu, der mir zu Ehren am Fuße des Sprungturmes veranstaltet wurde. »Spring, süßer Jesus, spring«, flüsterte die frühreife Zeugin Luzie Rennwand. Sie saß auf Satans Schoß, was ihre Jungfräulichkeit noch betonte. Er bereitete ihr Lust, indem er ihr ein Wurstbrot reichte. Sie biß zu und blieb dennoch keusch. »Spring, süßer Jesus!« kaute sie und bot mir ihr unverletztes Dreieck.
Ich sprang nicht und werde nie von Sprungtürmen springen. Das war nicht Oskars letzter Prozeß. Man hat mich mehrmals und noch in letzter Zeit zum Sprung verführen wollen. Wie beim Stäuberprozeß gab es auch beim Ringfingerprozeß — den ich besser den dritten Prozeß Jesu nenne — Zuschauer genug am Rande des azurgefliesten Bassins ohne Wasser. Auf Zeugenbänken saßen sie, wollten durch und nach meinem Prozeß weiterleben.
Ich aber machte kehrt, erstickte die flüggen Schwalben in meinen Achselhöhlen, erdrückte die unter meinen Sohlen Hochzeit feiernden Igel, hungerte die grauen Kätzchen in meinen Kniekehlen aus— und ging steif, die Hochgefühle des Sprunges verschmähend, auf das Geländer zu, schwang mich in die Leiter, stieg ab, ließ mir von jeder Leitersprosse bestätigen, daß man Sprungtürme nicht nur besteigen, sondern auch sprunglos wieder verlassen kann.
Unten erwarteten mich Maria und Matzerath. Hochwürden Wiehnke segnete mich ungefragt. Gretchen Scheffler hatte mir ein Wintermäntelchen mitgebracht, auch Kuchen. Das Kurtchen war gewachsen und wollte mich weder als Vater noch als Halbbruder erkennen. Meine Großmutter Koljaiczek hielt ihren Bruder Vinzent am Arm. Der kannte die Welt und redete wirr.
Als wir das Gerichtsgebäude verließen, kam ein Beamter in Zivil auf Matzerath zu, übergab dem ein Schreiben und sagte: »Sie sollten sich das wirklich noch einmal überlegen, Herr Matzerath. Das Kind muß von der Straße fort. Sie sehen ja, von welchen Elementen solch ein hilfloses Geschöpf mißbraucht wird.«
Maria weinte und hängte mir meine Trommel um, die Hochwürden Wiehnke während des Prozesses an sich genommen hatte. Wir gingen zur Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof. Das letzte Stück trug mich Matzerath. Über seine Schulter hinweg blickte ich zurück, suchte ein dreieckiges Gesicht in der Menge, wollte wissen, ob sie auch auf den Sprungturm mußte, ob sie Störtebeker und Moorkähne nachsprang, oder ob sie gleich mir die zweite Möglichkeit einer Leiter, den Abstieg wahrgenommen hatte.
Bis zum heutigen Tage habe ich es mir nicht abgewöhnen können, auf den Straßen und Plätzen nach einem mageren, weder hübschen noch häßlichen, dennoch unentwegt Männer mordenden Backfisch Umschau zu halten. Selbst im Bett meiner Heil-und Pflegeanstalt erschrecke ich, wenn Bruno mir unbekannten Besuch meldet. Mein Entsetzen heißt dann: jetzt kommt Luzie Rennwand und fordert dich als Kinderschreck und Schwarze Köchin letztmals zum Sprung auf.
Zehn Tage lang überlegte sich Matzerath, ob er den Brief unterschreiben und ans Gesundheitsministerium abschicken sollte. Als er ihn am elften Tag unterschrieben abschickte, lag die Stadt schon unter Artilleriebeschuß, und es war fraglich, ob die Post noch Gelegenheit fände, den Brief weiterzusenden. Panzerspitzen der Armee des Marschalls Rokossowski drangen bis Elbing vor.
Die zweite Armee, von Weiß, bezog Stellung auf den Höhen um Danzig. Es begann das Leben im Keller.
Wie wir alle wissen, befand sich unser Keller unter dem Laden. Man konnte ihn vom Kellereingang im Hausflur, gegenüber der Toilette, achtzehn Stufen hinabsteigend, hinter Heilandts und Katers Keller, vor Schlagers Keller erreichen. Der alte Heilandt war noch da. Frau Kater jedoch, auch der Uhrmacher Laubschad, Eykes und Schlagers waren mit einigen Bündeln davon. Von ihnen, auch von Gretchen und Alexander Scheffler hieß es später, sie seien in letzter Minute an Bord eines ehemaligen KdF-Schiffes gegangen und ab, Richtung Stettin oder Lübeck oder auch auf eine Mine und in die Luft geflogen; auf jeden Fall war über die Hälfte der Wohnungen und Keller leer.
Unser Keller hatte den Vorteil eines zweiten Einganges, der, wie wir gleichfalls alle wissen, aus einer Falltür 'im Laden hinter dem Ladentisch bestand. So konnte auch niemand sehen, was Matzerath in den Keller brachte, was er aus dem Keller holte. Es hätte uns auch niemand die Vorräte gegönnt, die Matzerath während der Kriegsjahre zu stapeln verstanden
Weitere Kostenlose Bücher