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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich, um Unterscheidungen wie kleiner und großer Katechismus enthoben zu sein, um nicht als einszweiundsiebzig großer, sogenannter Erwachsener, einem Mann, der sich selbst vor dem Spiegel beim Rasieren mein Vater nannte, ausgeliefert und einem Geschäft verpflichtet zu sein, das, nach Matzeraths Wunsch, als Kolonialwarengeschäft einem einundzwanzigjährigen Oskar die Welt der Erwachsenen bedeuten sollte. Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel und wuchs seit meinem dritten Geburtstag keinen Fingerbreit mehr, blieb der Dreijährige, aber auch Dreimalkluge, den die Erwachsenen alle überragten, der den Erwachsenen so überlegen sein sollte, der seinen Schatten nicht mit ihrem Schatten messen wollte, der innerlich und äußerlich vollkommen fertig war, während jene noch bis ins Greisenalter von Entwicklung faseln mußten, der sich bestätigen ließ, was jene mühsam genug und oftmals unter Schmerzen in Erfahrung brachten, der es nicht nötig hatte, von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, daß etwas im Wachsen sei.
    Dabei, und hier muß auch Oskar Entwicklung zugeben, wuchs etwas — und nicht immer zu meinem Besten — und gewann schließlich messianische Größe; aber welcher Erwachsene hatte zu meiner Zeit den Blick und das Ohr für den anhaltend dreijährigen Blechtrommler Oskar?
    GLAS, GLAS, GLÄSCHEN
    Beschrieb ich soeben ein Foto, das Oskars ganze Figur mit Trommel, Trommelstöcken zeigt, und gab gleichzeitig kund, was für längstgereifte Entschlüsse Oskar während der Fotografiererei und angesichts der Geburtstagsgesellschaft um den Kuchen mit den drei Kerzen faßte, muß ich jetzt, da das Fotoalbum verschlossen neben mir schweigt,jene Dinge zur Sprache bringen, die zwar meine anhaltende Dreijährigkeit nicht erklären, sich aber dennoch — und von mir herbeigeführt — ereigneten.
    Von Anfang an war mir klar: die Erwachsenen werden dich nicht begreifen, werden dich, wenn du für sie nicht mehr sichtbar wächst, zurückgeblieben nennen, werden dich und ihr Geld zu hundert Ärzten schleppen, und wenn nicht deine Genesung, dann die Erklärung für deine Krankheit suchen. Ich mußte also, um die Konsultationen auf ein erträgliches Maß beschränken zu können, noch bevor der Arzt seine Erklärung abgab, meinerseits den plausiblen Grund fürs ausbleibende Wachstum liefern.
    Ein sonniger Septembertag, mein dritter Geburtstag. Zarte, nachsommerliche Glasbläserei, selbst Gretchen Schefflers Gelächter gedämpft. Mama am Klavier aus dem Zigeunerbaron intonierend, Jan hinter ihr und dem Schemelchen stehend, ihre Schulter berührend, die Noten studieren wollend.
    Matzerath schon das Abendbrot vorbereitend in der Küche. Großmutter Anna mit Hedwig Bronski und Alexander Scheffler zum Gemüsehändler Greff hinüberrückend, weil Greff immer Geschichten wußte, Pfadfindergeschichten, in deren Verlauf sich Treue und Mut zu beweisen hatten; dazu eine Standuhr, die keine Viertelstunde des feingesponnenen Septembertages ausließ; und da alle gleich der Uhr so beschäftigt waren und sich vom Ungarnland des Zigeunerbarons, über Greff s Vogesen durchwandernde Pfadfinder eine Linie an Matzeraths Küche vorbei, wo kaschubische Pfifferlinge mit Rührei und Bauchfleisch in der Pfanne erschraken, zum Laden hin durch den Korridor zog, folgte ich, leichthin auf meiner Trommel dröselnd, der Flucht, stand schon im Laden hinter dem Ladentisch : fern das Klavier, die Pfifferlinge und Vogesen, und bemerkte, daß die Falltür zum Keller offen stand; Matzerath, der eine Konservendose mit gemischtem Obst für den Nachtisch hochgeholt hatte, mochte vergessen haben, sie zu schließen.
    Es bedurfte doch immerhin einer Minute, bis ich begriff, was die Falltür zu unserem Lagerkeller von mir verlangte. Bei Gott, keinen Selbstmord! Das wäre wirklich zu einfach gewesen. Das andere jedoch war schwierig, schmerzhaft, verlangte ein Opfer und trieb mir schon damals, wie immer, wenn mir ein Opfer abverlangt wird, den Schweiß auf die Stirn. Vor allen Dingen durfte meine Trommel keinen Schaden nehmen, wohlbehalten galt es, sie die sechzehn ausgetretenen Stufen hinab zu tragen und zwischen den Mehlsäcken, ihren unbeschädigten Zustand motivierend, zu placieren. Dann wieder hinauf bis zur

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