Die Blechtrommel
an »Ich sehe was, was nu nicht siehst«, an der »Schwarzen Köchin« vorbei, dieses Blech wollten sie mir wegnehmen und keinen Ersatz heranschaffen. Dumme Schokolade sollte mich ködern. Mama hielt sie und machte einen spitzen Mund dabei. Matzerath war es, der mit gemachter Strenge nach meinem invaliden Instrument griff. Ich klammerte mich an das Wrack. Er zog. Schon ließen meine gerade fürs Trommeln bemessenen Kräfte nach. Langsam entglitt mir eine rote Flamme nach der anderen, schon wollte mir das Rund der Einfassung entschlüpfen, da gelang Oskar, der bis zu jenem Tage als ein ruhiges, fast zu braves Kind gegolten hatte, jener erste zerstörerische und wirksame Schrei: die runde geschliffene Scheibe, die das honiggelbe Zifferblatt unserer Standuhr vor Staub und sterbenden Fliegen schützte, zersprang, fiel, teilweise nochmals zerscherbend, auf die braunroten Dielen — denn der Teppich reichte nicht ganz bis zur Standfläche der Uhr hin. Das Innere des kostbaren Werkes nahm jedoch keinen Schaden: ruhig setzte das Pendel — wenn man so von einem Pendel sagen kann — seinen Weg fort, desgleichen die Zeiger. Nicht einmal das Läutwerk, das sonst empfindlich, ja fast hysterisch auf den geringsten Stoß, auf draußen vorbeirollende Bierwagen reagierte, zeigte sich durch meinen Schrei beeindruckt; allein die Scheibe sprang, jedoch zersprang sie gründlich.
»Die Uhr ist kaputt!« rief Matzerath und ließ die Trommel los. Mit knappem Blick überzeugte ich mich, daß mein Schrei der eigentlichen Uhr keinen Schaden angetan hatte, daß nur das Glas hinüber war. Für Matzerath jedoch, auch für Mama und Onkel Jan Bronski, der an jenem Sonntagnachmittag seine Visite machte, schien mehr als das Glas vorm Zifferblatt kaputt zu sein. Bleich und mit hilflos verrutschenden Blicken äugten sie einander an, tasteten nach dem Kachelofen, hielten sich am Klavier und Büfett, wagten sich nicht vom Fleck, und Jan Bronski bewegte trockene Lippen unter flehentlich verdrehtem Auge, daß ich noch heute glaube, des Onkels Bemühungen galten dem Wortlaut eines Hilfe und Erbarmen fordernden Gebetes, wie etwa: Oh, du Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt — Miserere nobis. Und diesen Text dreimal und hernach noch ein: O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort.,.
Natürlich sprach der Herr kein Wort. Es war ja auch nicht die Uhr kaputt, nur das Glas. Es ist aber das Verhältnis der Erwachsenen zu ihren Uhren höchst sonderbar und kindisch in jenem Sinne, in welchem ich nie ein Kind gewesen bin. Dabei ist die Uhr vielleicht die großartigste Leistung der Erwachsenen. Aber wie es nun einmal ist: im selben Maß, wie die Erwachsenen Schöpfer sein können und bei Fleiß, Ehrgeiz und einigem Glück auch sind, werden sie gleich nach der Schöpfung Geschöpfe ihrer eigenen epochemachenden Erfindungen.
Dabei ist die Uhr nach wie vor nichts ohne den Erwachsenen. Er zieht sie auf, er stellt sie vor oder zurück, er bringt sie zum Uhrmacher, damit der sie kontrolliere, reinige und notfalls repariere. Ähnlich wie beim Kuckucksruf, der zu früh ermüdet, beim umgestürzten Salzfäßchen, beim Spinnen am Morgen, schwarzen Katzen von links, beim Ölbild des Onkels, das von der Wand fällt, weil sich der Haken im Putz lockerte, ähnlich wie beim Spiegel sehen die Erwachsenen hinter und in der Uhr mehr, als eine Uhr darzustellen vermag.
Mama, die trotz einiger schwärmerisch phantastischer Züge den nüchternsten Blick hatte, auch leichtsinnig, wie sie sein konnte, jedes vermeintliche Zeichen stets zu ihrem Besten wertete, fand damals das erlösende Wort.
»Scherben bringen Glück! «rief sie fingerschnalzend, holte Kehrblech und Handfeger und kehrte die Scherben oder das Glück zusammen.
Ich habe, wenn ich mich auf Mamas Worte berufen will, meinen Eltern, den Verwandten, bekannten und auch unbekannten Leuten viel Glück gebracht, indem ich jedem, der mir meine Trommel wegnehmen wollte, Fensterscheiben, volle Biergläser, leere Bierflaschen, den Frühling freigebende Parfümflakons, Kristallschalen mit Zierobst, kurz, alles was gläsern aus Glashütten dank Glasbläsers Atem hervorgebracht wurde, teils nur mit Glases Wert, teils als künstlerische Gläschen auf den Markt kam, zerschrie, zersang, zerscherbte.
Um nicht allzuviel Schaden anzurichten, denn ich liebte und liebe heute noch schöngeformte Glasprodukte, zermürbte ich, wenn man mir abends meine Blechtrommel nehmen wollte, die
Weitere Kostenlose Bücher