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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu essen, und wer was essen wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das?
    Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die Zwiebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genau hinschaut... nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder einige sahen nichts mehr, denen liefen die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt, daß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge : überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert später einmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich soviel Leid allenthalben — und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen — Schwein oder Fisch — ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwiebel für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. Da fiel der Tau. Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihre« Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Äug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte.
    Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft — sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung — der Wagen war vollbesetzt und Willy — das ist der Herr Vollmer — trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten .uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten Fuß hin, von dem

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